Seite - 225 - in Wiener Jahrbuch für Kunstgeschichte, Band LIX
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BRIEFE von Johannes Wilde AUS wIEN, juni 1920 bis februar 1921 225
Ich bin die dritte Woche hier als Gast und
Kunstgeschichtelehrer von Dr. Karl Graf Khuen-
Bélási (der Neffe des früheren ungarischen Mi-
nisterpräsidenten, unverheiratet, ca. 40 Jahre alt)
und ich kann sagen, ich fühle mich ausgezeichnet.
Ich wohne in einem wunderbaren Schloß um-
geben von einem Park (inmitten eines Waldes),
zwischen freundlichen und feinen Herren, die die
Unabhängigkeit von einem respektieren können.
Meine Verpflichtung ist, wenn der Graf zu Hause
ist, lesen wir zusammen oder unterhalten wir uns
über Kunstgeschichte, die des Grafen dilettanti-
sches Hobby ist, der ansonsten ein überraschend
gebildeter, kluger Mensch ist. Er ist Schüler von
Dvořák und sein größter Verehrer. (Dv[ořák] hat
im Februar des Jahres mit seiner ganzen Familie
zwei Wochen hier als Gast verbracht). Er nennt
sich monarchistischer Bolschewik, was so viel
heißt, daß er trotz seines großen Vermögens ein
Antikapitalist ist. Auf dem Gebiet der Kultur ist
er ultramodern. In seiner Bibliothek – 8.000 Bän-
de! – habe ich unter anderem die Theorie des Ro-
mans38 in zwei Exemplaren gefunden. Ich äußere
meine Meinung vor ihm in jeder Hinsicht in der
größten Freiheit und er ist ständig sehr daran in-
teressiert, was ich sage. In der Kunst ist er ein be-
geisterter Verehrer von Kokoschka, was viel mehr
bedeutet, als ob er bei uns ein Verehrer von Ady39 wäre. – Ich habe schon geschrieben, wie ich zu
ihm kam. Dv[ořák] bat ihn noch gegen Neujahr,
daß er in meinem Interesse40 interveniert. Der
Sekretär zeigte mir beispielsweise die Antworten,
die Kövess41, Dani, Adolf Ullmann42 etc. auf seine
Briefe schickten. Und all das unglaublich kom-
pliziert, weil mittels Boten, er hat einmal Strafe
zahlen müssen wegen Briefschmuggels. Sobald er
irgendeine Nachricht erhielt, hat er sofort auch
Dv[ořák] verständigt. Ist das nicht seltsam?
Der Hauptpunkt ist auch in diesem Dvořák.
Es ist unbeschreiblich, wie liebenswürdig er
mich empfing. Er sagte, er danke den beiden
ungarischen Revolutionen43, weil die mich ihm
zurückgebracht hätten. Ihm hat sehr gefallen,
obwohl er damit rechnete, daß ich nach einer
Beschäftigung fragte, die rein wissenschaftlich ist
und hauptsächlich nichts mit dem Kunsthandel
zu tun hat. In letzterer Hinsicht mußte auch er
Trauriges erleben. Übrigens konnte er eine Stelle
für mich bereithalten, gleich beim ersten Treffen
hat er darüber gesprochen und auch vor meiner
Abreise (am 3. Juli fuhr ich hierher) schrieb er
mir darüber per Fax44. Ab Neujahr wird das bis
dahin von ihm herausgegebene Jahrbuch in neuer
Form und mit neuem Inhalt erscheinen. Er wird
der Herausgeber sein, es wird zwei Redakteure ge-
ben, Tietze45 (bereits Professor) und Frey46 (Privat-
38 Ein 1916 in der Zeitschrift „Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft“ und 1920 in Buchform publiziertes Werk
von Georg Lukács. Lukács war während der Räterepublik Vertreter des Kommissärs für Kultur und Unterricht und
somit verantwortlich für das Kunstdirektorium; er lebte inzwischen ebenfalls in der Wiener Emigration.
39 Endre Ady, ungarischer Dichter, starb im Januar 1919. Einer der wirkungsmächtigsten Erneuerer der ungarischen
Dichtung zu Beginn des 20. Jahrhunderts.
40 Wilde wurde wegen seiner Mitwirkung am Kunstdirektorium polizeilich verfolgt und war wegen eines Nervenzu-
sammenbruchs in Spitalsbehandlung.
41 Vermutlich Feldmarschall Hermann Kövess, lebte nach dem Ende des Ersten Weltkrieges in Wien und in Budapest.
42 Vermutlich Adolf Ullmann, Präsident der Ungarischen Allgemeinen Kreditbank.
43 Oktober 1918 und März 1919.
44 So im Original. – Da das Faxgerät um Bild und Schrift zu übertragen bereits Mitte des 19. Jahrhunderts erfunden
und im Zuge des I. Weltkrieges nicht nur technisch verbessert wurde, sondern sich auch verbreitet hat, ist es nicht
ausgeschlossen, daß Dvořák Wilde auf diese Art ein Schriftstück übermittelte.
45 Hans Tietze (1880–1954), Extraordinarius am Institut für Kunstgeschichte an der Universität Wien und Ministerial-
referent für Museum und Denkmalpflege. Siehe u.a. A. Krapf-Weiler (Hrsg.), Hans Tietze. Lebendige Kunstwis-
senschaft. Texte 1910–1954, Wien 2007.
46 Dagobert Frey (1883–1962), Kunsthistoriker. Siehe u.a. O. Demus, Nachruf auf Dagobert Frey, in: Almanach der
Wiener Jahrbuch für Kunstgeschichte
Band LIX
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Titel
- Wiener Jahrbuch für Kunstgeschichte
- Band
- LIX
- Herausgeber
- Bundesdenkmalamt Wien
- Institut für Kunstgeschichte der Universität Wien
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2011
- Sprache
- deutsch, englisch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-78674-0
- Abmessungen
- 19.0 x 26.2 cm
- Seiten
- 280
- Schlagwörter
- research, baroque art, methodology, modern art, medieval art, historiography, Baraock, Methodolgiem, Kunst, Wien
- Kategorie
- Kunst und Kultur