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BRIEFE von Johannes Wilde AUS wIEN, juni 1920 bis februar 1921 227
Abend angekündigt war und Khuen aus diesem
Anlaß zu einem Abendessen geladen hat, zu dem
ich auch eingeladen wurde. Er sagte, er werde
uns seine Zukünftige vorstellen (eine Gräfin
Draskovich,55 die sich gerade von ihrem Mann
scheiden läßt) – und das konnte nicht abgewie-
sen werden. Aber der Vortrag hat mich ebenfalls
sehr interessiert, weil er aus einem mich beson-
ders interessierenden Themenkreis war, und ich
habe mich mit Dv[ořák] oft über die hier auftau-
chenden Probleme unterhalten. – Der Graf kam
mit dieser Einladung letzten Samstag von Wien
nach Emmahof. Ich habe gleich gedacht, wenn
ich wegen des Vortrages nach Wien fahre, bleibe
ich auch endgültig dort. In Grusbach hatte ich
eine so großartige Zeit, daß ich sowieso Gewis-
sensbisse hatte darüber, was ich von der Arbeit
versäumte. Komplikationen wurden nur dadurch
verursacht, daß ich nicht wußte, ob Ernestas zu-
rückgekommen sind. Zum Glück hat Juliska
mich am Bahnhof erwartet und mich auf Fol-
gendes vorbereitet: Ernestas sind seit einer Wo-
che in der Stadt, aber die arme Mikula ist schwer
krank, sie hat sich vor zwei Wochen verkühlt –
die Nächte und die Morgen sind in den Bergen
schon sehr kalt gewesen, und sie hatte nichts
Warmes mit sich, da sie den Aufenthalt nicht für
so lange Zeit plante, bloß E[rnestas] Abscheu vor
Wien hat die Heimreise wieder und wieder hin-
ausgezögert – sie hat starke Bronchitis und Asth-
ma und ihr geht es auch jetzt noch schlecht. Sie
darf nicht aufstehen, und wenn sie einen Anfall
hat, bekommt sie die ganze Nacht keine Luft. In
so einem Fall – es war auch heute in der Früh
so – muß man im Zimmer räuchern, damit es
ihr besser geht. Arme, arme gute Mikula. So, als Kranke, hat sie zusammen mit Juliska auch noch
ein Paket organisiert für Mumisika. (Ich habe ge-
hört, sie hätten alle drei Hüte abgeschickt, so daß
es jetzt zu Hause drei gibt, aber ich brauche vor
dem Frühling sowieso keinen). – Als sie erfahren
haben, daß ich nach Wien komme, wollten sie
ein Telegramm schicken, daß ich nicht kommen
soll. Schade daß sie es nicht getan haben, ich
hätte noch sechs Tage bleiben können. Jetzt ist
es egal, ich habe das kleine Zimmer bekommen,
in dem letzten Winter Mannheim56 und dann
Káldor57 wohnten, so daß ich einen Platz zum
Schlafen habe, für die Arbeit werde ich schon
einen Platz finden. – Ich komme zu gestern
Abend. Der Vortrag war im Österr[eichischen]
Museum58 mit Eintrittspreisen (für mich hat
Dv[ořák] von seinen fünf Karten eine in der er-
sten Reihe reserviert, die ich natürlich vor Ort
gegen eine schlechtere umtauschte, so daß ich
nicht die dort sitzenden Notabilitäten unterhal-
ten mußte). Das ist eine alte Tradition noch aus
der Zeit von Wickhoff und Riegl59, jedes Jahr
gibt es einen solchen Vortrag in einem sehr fei-
erlichen Rahmen. (Ca. 800 Zuhörer und min-
destens einhundert warteten im Vorraum auf
eventuell zurückgegebene Karten.) Dv[ořák] hat
volle zwei Stunden gesprochen, sehr schön, am
Ende in einer bekenntnisartigen Stimmung, und
riß die Zuhörer mit. Er sprach über ganz neue,
noch von niemandem behandelte Sachen und
zitierte niemanden sonst als den hl. Ignaz von
Loyola, den hl. Franz von Sales, die hl. Theresa,
Dostojevski und einmal mich; bezogen auf den
bisher noch ungeschriebenen, für ihn auch nur
aus Gesprächen bekannten zweiten Teil meiner
Dissertation hat er in ein Publikum von 800
55 Nora Sarah Karola von Lützow.
56 Karl Mannheim (1893–1947), Soziologe, übernahm einen Lehrstuhl während der Räterepublik und wählte nach de-
ren Niederschlagung ebenfalls die Emigration. Er übersiedelte nach einem kurzen Wiener Aufenthalt nach Deutsch-
land.
57 György Káldor (1900–1958), später Journalist.
58 Österreichisches Museum für Kunst und Industrie, heute Museum für angewandte Kunst.
59 Franz Wickhoff und Alois Riegl waren als Professoren an der Universität Wien die direkten Vorgänger von Dvořák
und Strzygowski.
Wiener Jahrbuch für Kunstgeschichte
Band LIX
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Titel
- Wiener Jahrbuch für Kunstgeschichte
- Band
- LIX
- Herausgeber
- Bundesdenkmalamt Wien
- Institut für Kunstgeschichte der Universität Wien
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2011
- Sprache
- deutsch, englisch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-78674-0
- Abmessungen
- 19.0 x 26.2 cm
- Seiten
- 280
- Schlagwörter
- research, baroque art, methodology, modern art, medieval art, historiography, Baraock, Methodolgiem, Kunst, Wien
- Kategorie
- Kunst und Kultur