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BRIEFE von Johannes Wilde AUS wIEN, juni 1920 bis februar
1921228
Menschen hineingeschrien: „Auf diese Bezie-
hungen hat uns mein Freund Wilde aufmerksam
gemacht.“60 Im Publikum war von den Bolsche-
wiks abwärts bis zu den Prinzen (Liechtenstein
und Lanckorski61) jeder Rang, jede Klasse und
Mentalität vertreten, wie sämtliche Beamte aller
Museen – sogar Strzygowski62 war dort. Vor dem
Vortrag habe ich Baldass getroffen, der über-
schwänglich nett war. – Das Abendessen nach
dem Vortrag in einem Extrazimmer des „Impe-
rial“, ich mußte die Gräfin (nicht Mutter Stein)
vorausbegleiten, dann, beim Tisch, hat mich der
Graf neben sie und Dvořák gesetzt (wir waren zu
zehnt, Kokoschka, die Swob[oda]s usw.) Die Zu-
künftige ist sehr groß, hübsch, unendlich sympa-
tisch, belesen und tuberkulös.
Zu Hause, am Abend, hatte ich den durch
Juliska bekommenen Brief von zu Hause. Jetzt
schäme ich mich nachträglich sehr, daß ich nicht
früher, aus Grusbach, schrieb, aber ich habe sehr
auf die Nachrichten von zu Hause gewartet. Im
letzten Brief ist die Takács-Geschichte besonders
aufregend, bitte um sehr genaue und ganz ehr-
liche Details. Manczi ist seit zehn Tagen nicht
mehr hier, er muß aber bald zurückkommen.
Schuster ist noch immer in Tulln, wir haben kei-
ne Nachricht von ihm. Wann kommt Holló?63
Jancsikas haben noch keinen Brief: herzliche Grüße. Vielen Dank für den detaillierten Be-
richt. Ernestas haben im Juli den Brief von den
Zuhausern bekommen und bedanken sich sehr;
von dort hat E[rnesta] nicht antworten können.
– Der Brief von Kálmán an Petro[vics]64 ist groß-
artig, die Verzweiflung wegen des Gespans Bolgár
ist meiner Meinung nach dumm, denn der Be-
treffende ist, glaube ich, ein Jude und ein Kind
der Károlyi Ära65. – Ich bitte Dudó sehr, ein ge-
bundenes Exemplar von Rákosis „Morsche Holz-
kreuze“66 zu kaufen und abzuschicken, ich habe
es der alten Gräfin67 in Grusbach versprochen.
– Ich schreibe so durcheinander, weil ich jeden
Augenblick mit Ernesta oder Mikula reden muß
oder die Katzen einen Krawall machen. – Sie ha-
ben zwei aus Waidhofen mitgenommen. Danke
für den Brief der lieben Zuhauser, ich werde auch
öfters schreiben. Viele, viele Küsse Br.
Liebe gute Zuhauser, gestern Abend habe
ich mit Dvořák gesprochen, leider nur sehr kurz,
weil wir zu viert bei ihm waren. Er sagte wieder,
daß er es am besten fände, wenn ich bei Guby68
angestellt wäre, angesichts dessen, daß das Jahr-
buch bei dem von diesem geleiteten Verlag er-
scheint. Er hat bereits mit Guby gesprochen, der
meint, es wird kaum ein Hindernis geben. Wir
werden sehen. – Am Abend war Káldorka69 hier,
von ihm habe ich gehört, daß Béni70 angeblich
60 Deutsch im Original. Da Wilde den zweiten Teil seiner Dissertation nicht ausarbeitete, ist dieser Hinweis unklar.
61 Vermutlich Franz Liechtenstein (1853–1938) und Karl Lanckoronski (1848–1933), die zwei Präsidenten der Zentral-
kommission für Denkmalpflege, deren Vizepräsident Max Dvořák war.
62 Die beiden kunsthistorischen Lehrstuhlinhaber Dvořák und Strzygowski waren bekanntlich zerstritten. Der Zwist ging v.
a. von Strzygowski aus, der Anfang der 1910er Jahre selbst seine Übersiedelung in eigene Räumlichkeiten betrieb. Es muß-
te ein zweites Kunstgeschichteinstitut eingerichtet werden, damit er von Dvořák auch örtlich getrennt arbeiten konnte.
63 Gyula Holló, Hausarzt der Wildes in Budapest und später durch die Vermittlung von Johannes Wilde auch jener
der Khuens in Österreich.
64 Elek Petrovics (1873–1945), Direktor des Museums für Schöne Künste in Budapest, somit Vorgesetzter von Wilde,
der offiziell in unbezahltem Urlaub ist.
65 Mihály Károlyi war von Oktober 1918 bis März 1919 Ministerpräsident von Ungarn und gilt als liberaler Politiker.
66 V. Ràkosi, Korhadt fakeresztek. Képek a magyar szabadságharcból Budapest, 1899.
67 Emanuela Kammel von Hardegger, Witwe von Eduard Khuen-Belasi.
68 Rudolph Guby (1888–1929) leitete die Österreichische Bundeslichtbildstelle, deren Tochtergesellschaft die Österrei-
chische Verlagsgesellschaft Ed. Hölzel war.
69 Káldorka = Káldor-chen, d. i. György Káldor.
70 Béni Ferenczy (1890–1967), Bildhauer, ebenfalls am Kunstdirektorium beteiligt, lebte während der Zwischenkriegs-
zeit in Wien. Siehe S. Kontha, Béni Ferenczy, in: Acta Historiae Artium, Budapest 1979, S. 253–280.
Wiener Jahrbuch für Kunstgeschichte
Band LIX
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Titel
- Wiener Jahrbuch für Kunstgeschichte
- Band
- LIX
- Herausgeber
- Bundesdenkmalamt Wien
- Institut für Kunstgeschichte der Universität Wien
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2011
- Sprache
- deutsch, englisch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-78674-0
- Abmessungen
- 19.0 x 26.2 cm
- Seiten
- 280
- Schlagwörter
- research, baroque art, methodology, modern art, medieval art, historiography, Baraock, Methodolgiem, Kunst, Wien
- Kategorie
- Kunst und Kultur