Seite - 231 - in Wiener Jahrbuch für Kunstgeschichte, Band LIX
Bild der Seite - 231 -
Text der Seite - 231 -
BRIEFE von Johannes Wilde AUS wIEN, juni 1920 bis februar 1921 231
hat dessen Sachen gesehen, er sagt, es ist viel Gu-
tes darunter.
Gott sei mit Ihnen, liebe gute Zuhauser, ei-
nen ordentlichen Brief kann ich nur nächste Wo-
che schreiben. Ich freue mich sehr, daß ich reisen
kann. Unzählige Küsse Bundsi.
[20151/1979/32/7]
Emmahof, 9. Februar [1921], Mittwoch
Liebe Mumisika, Tyumpika, Dudó!
Eine sehr traurige Nachricht muß ich mittei-
len. Herr Professor Dvořák, mein guter Lehrer,
ist gestern Abend unerwartet an einer Gehirn-
blutung verstorben. Ich kann jetzt nicht darüber
reden, wie schrecklich diese Realität ist, liebe Zu-
hauser, Sie werden es sowieso wissen, ich schilde-
re daher kurz die Umstände. Sobald es eine Ge-
legenheit gibt, werde ich ausführlicher schreiben.
Sonntagabend sind wir hier zusammen ange-
kommen. Es war sein Wille, daß ich ihn hierher
begleite bei seinem einwöchigen Urlaub, auf den
er sich so freute. Khuen ist in dem glücklichen
Glauben mit uns gereist, daß er seit Jahren das
erste Mal eine ganze Woche ungestört zu Hau-
se verbringen kann. – Ich schreibe sehr schwer
weiter. Nur 24 Stunden haben wir so miteinan-
der verbracht, Montagabend haben wir uns nach
eins niedergelegt, nach einem in bester Laune
verbrachten langen Tag. Der Herr Professor fühl-
te sich sehr gut. Liebenswürdig und weise sprach
er mit jedem – und gestern in der Früh, als der
Kammerdiener ihn wecken ging, hat er ihn ne-
ben seinem Bett am Boden liegend ohnmächtig
gefunden. Der Arzt war in einer Viertelstunde
da, versuchte alles Mögliche, er arbeitete über-
menschlich, erreichen konnte er nichts mehr.
Die Blutung im Kleinhirn war zu stark, die Läh-
mung ist sofort eingetreten und wir hatten nichts [tun können], als sein Kinn zu halten, damit die
zurückrutschende Zunge seine Atmung nicht
behindert. Wir sind bis zum Schluß nicht von
seiner Seite gewichen. Der Arzt mußte nach dem
Mittagessen weggehen, auch der Graf, dessen
Verwalter vorgestern gestorben ist, und wir sind
mit der Schwester des Grafs94 alleine geblieben,
nach ca. ½ 6 ist der Tod eingetreten. Die Witwe
und die zwei kleinen Töchter,95 die wir noch am
Vormittag über den Kollaps des Herrn Professors
verständigen konnten, sind erst zwei Stunden
später angekommen, als er schon aufgebahrt war.
Seither dürfen wir für keine Sekunde von ihrer
Seite weichen – besonders schwierig wird das
heute Nachmittag, da von hier jeder zum Be-
gräbnis des Direktors96 gehen muß.
Gott sei mit Ihnen, liebe gute Zuhauser. Der
Garten ist wunderbar unter dem Fenster, die
dunklen Tannen mit dem frischen Schnee und
die Sonne scheint so friedlich. So schön trauern
sie nach dem armen Herrn Professor. Mit Küssen
Bundusi
[20151/1979/32/8]
Dienstag, 15. Februar [1921]
Liebe gute Zuhauser,
heute in der früh habe ich Ihren Brief be-
kommen. Ich war schon sehr beunruhigt, weil
die Post lange ausblieb, heute hat mich Mikula
mit ihr aufgeweckt. Gestern in der Früh bin ich
mit dem Graf aus Grusbach nach Wien gekom-
men auf die Trauermesse mit dem ersten Zug, so
daß wir vom Bahnhof gerade noch zur Jesuiten-
kirche – Dvořáks liebste Wiener Kirche – fahren
konnten, um 11 Uhr zur Trauermesse. Aber dazu
mußte ich um 3 aufstehen und zwei Stunden in
der Nacht mit der Kutsche fahren. Am Nach-
mittag bei der Witwe bis zum Abendessen, am
94 Es gab drei Schwestern: Anna Emanuela, geb. 1876; Emanuela Anna, geb. 1877; und Maria Gabriele, geb. 1880. In
diesem Fall handelt es sich vielleicht um Emanuela Anna von Götzen, mit der Wilde auch später Bekanntschaft
pflegte.
95 Rosa Dvořák, geb. Jovanovic-Seatovic, und die beiden Töchter Hermine und Gisela.
96 D.h. des Verwalters.
Wiener Jahrbuch für Kunstgeschichte
Band LIX
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Titel
- Wiener Jahrbuch für Kunstgeschichte
- Band
- LIX
- Herausgeber
- Bundesdenkmalamt Wien
- Institut für Kunstgeschichte der Universität Wien
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2011
- Sprache
- deutsch, englisch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-78674-0
- Abmessungen
- 19.0 x 26.2 cm
- Seiten
- 280
- Schlagwörter
- research, baroque art, methodology, modern art, medieval art, historiography, Baraock, Methodolgiem, Kunst, Wien
- Kategorie
- Kunst und Kultur