Seite - 85 - in Jugendkommunikation und Dialekt - Syntax gesprochener Sprache bei Jugendlichen in Osttirol
Bild der Seite - 85 -
Text der Seite - 85 -
Sprachvariation und gesprochene Sprache | 85
und intendieren müssen, also eine schriftbezogene Analyse des Gesprochenen; und dass
wir eine literarische, eine auf den Buchstaben bezogene Lehre von der Rede haben. (Eh-
lich 2006: 13)
Die Grammatikschreibung ist also einerseits mit einer lange praktizierten und
fest etablierten Schriftbezogenheit, einem Skriptizismus behaftet, andererseits
ist jedoch auch ein Phonozentrismus – in dem Sinne, dass gesprochene der ge-
schriebenen Sprache als vorgelagert angesehen wird117 – festzustellen. Diesen
Widerspruch hält etwa Krämer fest:
Merkwürdig ist ja, daß der explizite Phonozentrismus, die Überzeugung also, daß die
Schrift im Verhältnis zur Lautsprache ein Sekundärphänomen ist, sich so oft verschränkt
mit einem impliziten Skriptizismus, welcher das Untersuchungsobjekt Sprache wie einen
schriftförmigen Gegenstand behandelt. (Krämer 1996: 107)
Indem Krämer den expliziten Phono- einem impliziten Skriptizismus gegen-
überstellt, wird auch angesprochen, dass Skriptizismus nicht automatisch eine
explizite oder intendierte, also bewusst vollzogene Schriftbezogenheit bedeu-
tet.118 Abseits dieser semantischen Ausdifferenzierung stellt sich jedoch die
Frage, inwiefern es in einer Schriftkultur überhaupt möglich sein kann, losge-
löst von der geschriebenen Sprache zu Beschreibungskategorien für verbale
Interaktion in mündlicher Kommunikation zu gelangen. So stellt etwa auch
Stetter (1994: 362) fest: „Mit der Evolution einer jeden Schrift bildet sich unver-
meidlich auch das für sie ‚passende‘ Repertoire an reflexiven Deutungskatego-
rien heraus“, denn erst die visuelle Gebundenheit und fixierte Tradierung durch
die Schrift mache es möglich, Sprache einer systematischen Beschreibung zu
unterziehen. Auch Ágel weist auf diese enge Verbindung von Literalität und
Grammatik hin, wenn er schreibt:
Es ist die Schriftkultur – und noch mehr: die Alphabetkultur –, die eine totale Verdingli-
chung des Sprechens durch die Schaffung des visuell gebundenen (und auditiv entbun-
denen) Begriffs der Sprache ermöglicht/erzwingt und die Idee überhaupt aufkommen
||
117 Vgl. z.B. die Bekundung des Primats der gesprochenen gegenüber der geschriebenen
Sprache bei Saussure (1916/1967: 28): „Nicht die Verknüpfung von geschriebenem und gespro-
chenem Wort ist Gegenstand der Sprachwissenschaft, sondern nur das letztere, das gespro-
chene Wort allein ist ihr Objekt.“) oder auch schon früher bei Humboldt (1830-1835, Werke 3:
418), der betont, dass die Sprache „im wahren und wesentlichen Sinne […] gleichsam die Tota-
lität dieses Sprechens“ ist.
118 Zur Unterscheidung von intendiertem und nicht-intendiertem Skriptizismus und der
Auffassung von Schriftbezogenheit bzw. Schriftlastigkeit als semantisch neutraleren Oberbe-
griff für die grammatische Fokussierung von geschriebener Sprache vgl. Hennig (2006: 2627).
zurück zum
Buch Jugendkommunikation und Dialekt - Syntax gesprochener Sprache bei Jugendlichen in Osttirol"
Jugendkommunikation und Dialekt
Syntax gesprochener Sprache bei Jugendlichen in Osttirol
- Titel
- Jugendkommunikation und Dialekt
- Untertitel
- Syntax gesprochener Sprache bei Jugendlichen in Osttirol
- Autor
- Melanie Lenzhofer
- Verlag
- De Gruyter Open Ltd
- Datum
- 2017
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-11-050330-2
- Abmessungen
- 14.8 x 22.0 cm
- Seiten
- 502
- Kategorie
- Geographie, Land und Leute