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lishment zur Zeit des Vormärz genauso veraltet und obsolet gewesen sei wie
das politische, und machte so die Wertungen seiner eigenen Zeit zur Grund-
lage für die Beurteilung einer vergangenen Zeit, die man durchaus auch als
intellektuell gleichwertig und legitimer Weise mit selbständigen Auffassun-
gen von Wissenschaft und Medizin operierend betrachten hätte können. Ge-
rade aber die neuere Wissenschaftsgeschichte und Wissenschaftstheorie, die
vom Begriff einer absoluten, allgemeinverbindlichen Wahrheit abgerückt ist,
dürfte Puschmann, der eben vom Positivismus seiner Zeit geprägt war, kei-
nen Vorwurf machen, folgte er doch nur den sozialen und politischen Leit-
motiven seines Standes und seiner Zeit. Ist es nicht paradox: Wissenschafter,
die sich von einer allgemeinverbindlichen Wahrheit verabschiedet haben,
müssen, zumindest in historischer Hinsicht, die Behauptung einer solchen
Wahrheit als legitim erachten, wollen sie nicht ihren mehr oder weniger
stark ausgeprägten Relativismus selbst desavouieren – hier drängt sich doch
die Rede von einem performativen Widerspruch gleichsam auf.45 Theodor
Puschmann aber konnte, als Verfechter der ihm bekannten wissenschaftli-
chen Wahrheit, in Raimann ohne methodische Skrupel vor allem einen
Verhinderer wahren naturwissenschaftlichen Fortschritts erblicken und daher
zu der Preisfrage der 1838 gegründeten „K. k. Gesellschaft der Aerzte“:
„Was haben Oesterreichs Aerzte in der praktischen Heilkunde seit van Swie-
ten geleistet?“ nur Folgendes anmerken:
„Leider blieb diese Frage unbeantwortet; es scheint, dass man unter dem
mächtigen Eindrucke der in rascher Folge auftretenden Entdeckungen, welche
die pathologische Anatomie und die Diagnostik der Krankheiten in jener Pe-
riode der wissenschaftlichen Erkenntnis erschlossen, wenig Zeit und Neigung
fand, auf die Vergangenheit zurückzublicken. – Die ereignisvolle Gegenwart
fesselte die Geister und von der nahen Zukunft erwartete man die Erfüllung
kühner Hoffnungen. Ein Kreis junger, strebsamer Forscher, welche sich am
Krankenbett und am Secirtisch zusammengefunden hatten, begann die von
der Schule überlieferten Ideen zu überprüfen und, gestützt auf eigene Unter-
suchungen und Beobachtungen, die Grundlinie einer neuen Lehre zu entwer-
fen. Die Freiheit des Denkens, die Selbstständigkeit des Urtheils waren das
Banner, unter dem sie muthig und siegesgewiss der neuen Zeit entgegenzo-
gen.“46
45 Zum Argumentationsmodell des performativen Widerspruchs vgl. Béla Weissmahr,
Die Wirklichkeit des Geistes. Eine philosophische Hinführung (Stuttgart 2006).
46 Puschmann, Die Medicin in Wien, S. 204.
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