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102 nei und es half kein Gebet: Hätte eine Arznei geholfen, so wäre die
Kartschma von Brzosteck verschont geblieben, denn sie glich keiner Brannt-
weinschenke mehr, sondern einer Apotheke, und hätte ein Gebet geholfen, so
wäre Abe Nahum Waßerkrug erhört worden, der vom Morgen bis Abend das
Gesicht der Wand zugekehrt stand und laut zu Gott schrie wie ein Chassid.“82
Im September 1831 wurde der Ausbruch der Cholera in Wien amtlich be-
kannt gemacht, und bald hatte die Seuche die Stadt fest in ihrem Griff. Be-
sonders für das Gesundheitswesen stellte die Cholera eine große Herausfor-
derung dar. Da das Wiener Allgemeine Krankenhaus, dessen Direktor Rai-
mann ja bis zur Übernahme der Würde eines kaiserlichen Leibarztes im Jahr
1829 gewesen war, „schon sehr bald nicht mehr im Stande war, die Menge
der Patienten aufzunehmen, so wurden mehrere Choleraspitäler errichtet. Für
dieselben war ein Wärterpersonal von 140 Personen erforderlich, welche im
allgemeinen Krankenhause den nothwendigen Unterricht in der Kranken-
pflege erhalten hatten.“ Die Cholera forderte in Wien mehrere tausend Men-
schenleben, und auch vor Standesschranken machte sie nicht halt; ja selbst
ranghohe Ärzte mussten ihr erliegen: „Zu den Opfern, welche die Krankheit
forderte, gehörten auch die Primarchirurgen Gassner und Sidorowicz. Die
Epidemie, welche bis zum März des folgenden Jahres dauerte, raffte von der
Bevölkerung Wiens, die damals etwa 330.000 Menschen betrug, bei 4362
Erkrankungen 2188 hinweg.“83 Ende März 1832 war also das Ärgste über-
standen, dennoch blieb die Angst vor einem erneuten Ausbruch der Cholera
– nicht zu Unrecht, denn 1836 sollte die Seuche erneut Wien heimsuchen
und tausende Opfer fordern. Im Mai 1832 waren die Schrecken der Cholera,
die die tief und nahe an Donau und Wienfluss gelegene Wiener Altstadt
besonders betraf, da dort Trink- und Abwassersysteme nicht ausreichend
getrennt waren und so den Cholera-Erregern eine gute Brutstätte boten, also
noch durchaus präsent, und sie mochten ihren Teil zum Entschluss des Kai-
sers, sich auf Reisen zu begeben, beigetragen haben. Freilich darf man diese
Reise mitnichten als Davonlaufen des angsterfüllten Kaisers vor der Cholera
missdeuten. Im Gegenteil, während des Höhepunktes der Epidemie weigerte
sich Franz I., Wien zu verlassen; er wollte bei seinen verängstigten und
kranken Untertanen bleiben, die ihm in seiner schwersten Zeit während der
Napoleonischen Kriege ebenso treu geblieben waren, wie er ihnen nun treu
blieb: „Der alte Kaiser Franz II. ließ daraufhin durch angesehene Mediziner
82 Leopold von Sacher-Masoch, Judengeschichten (Leipzig 1878), S. 6f.
83 Puschmann, Die Medicin in Wien, S. 146.
Des Kaisers Leibarzt auf Reisen
Johann Nepomuk Raimanns Reise mit Kaiser Franz I. im Jahre 1832