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Eröffnung der Pferdeeisenbahn Linz-Budweis erlebte, war die Geburt eines
neuen Massentransportmittels, das im 19. Jahrhundert die Kultur und die
Wirtschaft und damit die Lebensbedingungen der Menschen grundlegend
verĂ€ndern sollte â aus der Retrospektive kann das 19. Jahrhundert als das
âJahrhundert der Eisenbahnâ bezeichnet werden.280 Die Beschleunigung der
Kommunikation und die Steigerung der MobilitĂ€t groĂer Teile der Bevölke-
rung ĂŒber weite geographische RĂ€ume hinweg schufen ein neues Lebensge-
fĂŒhl und neue Möglichkeiten der Lebensgestaltung fĂŒr den Einzelnen, aber
auch neue und effizientere Formen der HerrschaftsausĂŒbung durch den Staat
und seine Institutionen. Die Eisenbahn wurde so zu einem Sinnbild der Mo-
derne. âFĂŒr die öffentliche Meinung und das allgemeine Empfinden wurde
die Eisenbahn zum Symbol der modernen Technik schlechthin; denn hier
sah sich zum ersten Mal jeder Mensch â auch der, der nie eine Fabrik von
innen zu sehen bekam â mit einer groĂen Maschine konfrontiert, und noch
dazu mit einer, die neue Wahrnehmungsweisen, GefĂŒhle und Nervenreize
stimulierte.â281 Die Eisenbahn sollte also als Verkörperung des Fortschritts
wahrgenommen werden, ja so mancher sah in ihr sogar ein Mittel zur Beför-
derung des Weltfriedens und zur Vervollkommnung der Menschheit, wie
Reinhart Koselleck konstatiert:
âSo wird in einem Essay des Konversationslexikons âBrockhausâ ĂŒber die
Eisenbahnen 1838 diesem dampfenden Vehikel eine Heilsbestimmung abge-
wonnen. Die Weltfriedensorganisation einer sich selbst bestimmenden
Menschheit wird zunĂ€chst â ganz im Sinne von Kant â als ein Postulat sittli-
cher Notwendigkeit definiert. Dann fĂ€hrt der Autor fort: âNach diesem wahr-
haft göttlichen Ziel hat die Geschichte zwar von jeher ihren Lauf gerichtet,
doch auf den stĂŒrmisch vorwĂ€rtsrollenden RĂ€dern der Eisenbahnen wird sie
es um Jahrhunderte frĂŒher erreichenâ.â282
280 Vgl. Ralf Roth, Das Jahrhundert der Eisenbahn. Die Herrschaft ĂŒber Raum und Zeit
1800-1914 (Ostfildern 2005).
281 Joachim Radkau, Technik in Deutschland. Vom 18. Jahrhundert bis zur Gegenwart
(Frankfurt/Main 1989), S. 135. Zur mentalitÀtshistorischen PrÀgekraft der Eisenbahn vgl.
auch Nikolaus Reisinger, Die Eisenbahn â als Faszinosum â im Spannungsfeld prototy-
pischer und archetypischer Erfahrungswelten, in: Friedrich Bouvier, Nikolaus Reisinger
(Hrsg.), Stadt und Eisenbahn â Graz und die SĂŒdbahn. Historisches Jahrbuch der Stadt
Graz, Bd. 37 (Graz 2007), S. 13-33; Wolfgang Schivelbusch, Geschichte der Eisenbahn-
reise. Zur Industrialisierung von Raum und Zeit im 19. Jahrhundert (Frankfurt/Main
Âł2004).
282 Reinhart Koselleck, Zeitschichten. Studien zur Historik (Frankfurt/Main 2003), S.
193.
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Des Kaisers Leibarzt auf Reisen
Johann Nepomuk Raimanns Reise mit Kaiser Franz I. im Jahre 1832