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Fischer
Kunst nach Ordnung, Auswahl und System
der Künstler ermittelt. Schon am Beginn der Übertragung von Plinius’ Entwurf der antiken
Schulen auf die neuzeitliche Malerei hatte Giovanni Battista Agucchi in seinem Trattato
della pittura (zwischen 1607 und 1615) zwischen vier verschiedenen italienischen Schulen
(der römischen, venezianischen, lombardischen und toskanischen Schule) und drei nordi-
schen Schulen (der deutschen, flämischen und französischen Schule) unterschieden, de-
ren künstlerischer Charakter von den ersten Exponenten jeder Malerschule geprägt war –
zumindest was die italienischen Schulen betraf. Dabei standen Raffael und Michelangelo
der römischen Schule, Tizian der venezianischen, Correggio der lombardischen, Leonardo
und Andrea del Sarto der Florentiner Schule vor.136 Ab dem frühen 18. Jahrhundert wurde
das Schulmodell dann gesamteuropäisch diskutiert und – in der Differenzierung regiona-
ler Schulen – ausgeweitet und verschieden akzentuiert.
Im Verzeichniß betont Mechel, dass die Einteilung nach Malerschulen und die stilkriti-
sche Zuordnung der Künstler zu einer bestimmten Schule weitestgehend etabliert und er
nur mehr einer „eingeführten Gewohnheit“ gefolgt sei.137 Dass bei der Neuordnung der
kaiserlichen Galerie 1780 das Schulmodell in kunstwissenschaftlicher Systematik, d.h. in
Ausdifferenzierung der venezianischen, römischen, Florentiner, Bologneser und lombardi-
schen Malerei zur Anwendung kam, lässt nicht nur die Kenntnis Mechels der Systematiken
italienischer Kunsttheorie wahrscheinlich erscheinen – verwiesen sei hier noch einmal auf
seinen Italienaufenthalt –, sondern lenkt die Aufmerksamkeit auf ein graphisches Mappen-
werk, das nicht nur als eine Art Kompendium kennerschaftlicher Theorie und Sammelpra-
xis im 18. Jahrhundert aufgefasst werden kann, sondern auch als missing link zwischen ita-
lienischer Kunsttheorie und musealer Ordnung: der Recueil d’estampes d’après les plus
beaux tableaux et d’après les plus beaux desseins.138 (Abb. 32, 33)
Der Recueil d’estampes wurde von Pierre Crozat initiiert und mit Texten des prominen-
ten Kunstexperten, Graphiksammlers und Verlegers Pierre-Jean Mariette versehen.139 In ihm
wurden nicht nur Gemälde und Zeichnungen aus den Sammlungen des französischen Kö-
nigs, sondern auch des Regenten Philippe II. Duc d’Orleans sowie Crozats selbst reprodu-
ziert. 1721 zur Subskription vorgestellt, sollten die geplanten 24 Bände ursprünglich in ein
bemerkenswertes, jedoch nicht ganz verwirklichtes Vorhaben münden: Hauptwerke der rö-
mischen, venezianischen, Florentiner, lombardischen, Bologneser, flämischen, französi-
schen und spanischen Malerschule in einem Werk zu versammeln und damit gleichsam
eine universale Kunstgeschichte neuzeitlicher Malerei, in Malerschulen und Stile eingeteilt,
zu visualisieren. Infolge der hohen Kosten konnten nur die ersten beiden Bände – 1729 die
römische Schule und 1742 die römische und venezianische Schule – realisiert werden.
Der Recueil d’estampes kombiniert die Analyse der stilistischen Merkmale des einzelnen
Kunstwerks mit dem Modell der Malerschulen. Die beiden realisierten Bände zur römi-
schen und venezianischen Schule enthalten zu den reproduzierten Gemälden ausführliche
Texte Mariettes zur Geschichte der Schule, des Künstlers und seines Werks sowie techni-
sche Angaben zum einzelnen Gemälde und zur Reproduktion. Diese zugleich an Œuvre,
Biographie und Schule festgemachte Werkanalyse verbindet sich zur Geschichte der Ma-
lerschulen, die von jeweils einem Hauptmeister – für die römische Schule Raffael, für die
venezianische Tizian – geprägt werden. In diesem Zusammenhang erscheinen im Recueil
d’estampes als neue Aspekte der Kunstwissenschaft die Thematisierung und Visualisierung
von Lehrer-Schüler-Verhältnissen, so zum Beispiel die Bezugnahme von Raffael auf Perugi-
no.140 Im Überblick, im Vergleich der Stiche, wird die Geschichte der Malerei nachvollzieh-
bar gemacht.
Überliefert ist, dass Mechel bei der Neuordnung „[d]ie alten, nach Gemälden der Gal-
lerie zu verschiedenen Zeiten und allerhand Meistern erschienenen, zum Theil sehr rar ge-
wordenen Kupferstiche, [...] besonders wohl zustatten gekommen“141 sind. In der franzö-
sischen Fassung des Katalogs führt er dezidiert die zur kaiserlichen Sammlung relevanten
Die kaiserliche Gemäldegalerie in Wien und die Anfänge des öffentlichen Kunstmuseums
Die Kaiserliche Galerie im Wiener Belvedere (1776–1837), Band 1
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Titel
- Die kaiserliche Gemäldegalerie in Wien und die Anfänge des öffentlichen Kunstmuseums
- Untertitel
- Die Kaiserliche Galerie im Wiener Belvedere (1776–1837)
- Band
- 1
- Autor
- Gudrun Swoboda
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2013
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-79534-6
- Abmessungen
- 24.0 x 28.0 cm
- Seiten
- 312
- Kategorie
- Kunst und Kultur