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Fischer
Kunst nach Ordnung, Auswahl und System
französischen Fassung des Katalogs zu lesen, „zum Bei-
spiel bei Tizian, eine so glückliche Wirkung erzeugt,
dass man dadurch in die Lage versetzt wird, diesen gro-
ßen Meister mit sich selbst in seinen unterschiedlichen
Lebensaltern und in den verschiedenen Gattungen, in
denen er sich geübt hat, zu vergleichen.“148
Im Zusammenhang der stilistischen Entwicklung
von den Anfängen bis zum reifen Werk wurden nun an
den Wänden auch stilistische Verwandtschaften oder
Lehrer-Schüler-Verhältnisse thematisiert. (Abb. 34, 35)
So dominierten im Tizian-Raum an der ersten Wand der
frühe Zeitgenosse Palma Vecchio mit den Gemälden
Die Heimsuchung Mariae, Maria mit Kind und den Heili-
gen Katharina, Coelestin, Johannes dem Täufer und Bar-
bara und Maria mit dem Kind, dem Evangelisten Markus,
der hl. Ursula und deren Gefährtinnen (ein Bild, das Pal-
ma Vecchio zugeschrieben wurde, heute als Bonifazio
Veronese gilt) sowie die Tizian-Schüler Pordenone mit
der Hl. Justina, von einem Stifter verehrt im Zentrum der
Wand (heute Moretto da Brescia zugeschrieben) und
Polidoro Lanzani mit zwei Heiligen Familien. Die weiblichen Bildnisse in unterster Reihe an
dieser Wand wurden allesamt Palma Vecchio zugeschrieben, auch die Laura, die heute als
Giorgione gilt. Die zweite und dritte, letzte Wand waren ausschließlich mit Werken von Ti-
zian gefüllt, wobei Mechel den künstlerischen Entwicklungsgang bis in das – im späten 18.
Jahrhundert gar nicht so geschätzte – Spätwerk Tizians fortführte. Die dritte Wand schließt
nach der Danae von 1554, der Diana und Callisto von 1566 mit dem Spätwerk Nymphe
und Schäfer vom 1570/75 ab.
Eine dem „Auge sichtbare Geschichte der Kunst“ (Mechel 1783)
Was bisher für die Galerieaufstellung als Beispiel einer – wenn auch bis dato nur in Gra-
phiksammlungen – schon eingeführten Praxis kunstwissenschaftlichen oder kennerschaft-
lichen Umgangs mit Kunstwerken beschrieben wurde, führt zur Frage, warum denn die
neue Form der Hängung schon von den Zeitgenossen als ein so außerordentliches Ereig-
nis und als bedeutende Zäsur wahrgenommen wurde.
Mechel formulierte den „Zweck allen Bestrebens“ im Vorwort seines Galeriekatalogs
dahingehend, das Galeriegebäude zu nutzen, um eine „sichtbare Geschichte der Kunst“149
nach „Ordnung, Auswahl und System“150 zu zeigen. Er scheint sich seines innovativen
Tuns bewusst gewesen zu sein, wenn er in der analogen Stelle der französischen Ausgabe
konkretisiert, er habe die Gemälde nach einer „neuen Manier“ und „nach chronologischer
Ordnung oder der Abfolge der Meister“ systematisiert, und zwar im zweiten Stock mit den
niederländischen und den deutschen Gemälden. Darin führt er weiter aus: „Daraus ergibt
sich ein ebenso lehrreiches wie auffallendes Ganzes, weil von Saal zu Saal die Steigerung
oder die Charaktere der Zeitalter so wahrnehmbar geworden sind, dass der einfache Blick
unendlich viel mehr aufnimmt, als es die gleichen Stücke, ohne Rücksicht auf die Zeit ih-
rer Herstellung verteilt, ermöglichen würden; und es soll für die Künstler wie für die Lieb-
haber aller Länder interessant sein zu wissen, dass gegenwärtig ein Depot der sichtbaren
Geschichte der Kunst existiert.“151
Die zentrale Formulierung der „sichtbaren Geschichte der Kunst“ verknüpft den
Kollektivsingular Geschichte mit dem Kollektivsingular Kunst und impliziert damit eine
historische Per
spektive der Kunstbetrachtung sowie die Auffassung der Kunstgeschichte
Abb. 34
„Erste Wand, mit der Eingangs-Thüre“ im
zweiten Zimmer („Gemälde Venetianischer
Meister“) der italienischen Schulen im ersten
Stock des Oberen Belvedere. Digitale
Rekonstruktion nach Mechel 1783
(Rekonstruktion: Autorin)
Abb. 35
„Dritte Wand, mit der Ausgangs-Thüre“ im
zweiten Zimmer („Gemälde Venetianischer
Meister“) der italienischen Schulen im ersten
Stock des Oberen Belvedere. Digitale
Rekonstruktion nach Mechel 1783
(Rekonstruktion: Autorin)
Die kaiserliche Gemäldegalerie in Wien und die Anfänge des öffentlichen Kunstmuseums
Die Kaiserliche Galerie im Wiener Belvedere (1776–1837), Band 1
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Titel
- Die kaiserliche Gemäldegalerie in Wien und die Anfänge des öffentlichen Kunstmuseums
- Untertitel
- Die Kaiserliche Galerie im Wiener Belvedere (1776–1837)
- Band
- 1
- Autor
- Gudrun Swoboda
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2013
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-79534-6
- Abmessungen
- 24.0 x 28.0 cm
- Seiten
- 312
- Kategorie
- Kunst und Kultur