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Fischer
Kunst nach Ordnung, Auswahl und System
vor meinen Augen werden, und
von Grad zu Grad zur Vollkom-
menheit erheben, so wie ich
von Wand zu Wand ging. Es war
für mich eine anschauliche Ge-
schichte des mensch lichen Geis-
tes, wie er in einer von den schö-
nen Künsten erfand, fortschritt,
und allmählich zu Vollkommen-
heit hinaufstieg. Im ersten Stocke
des Gebäudes, der die italieni-
schen und niederländischen Ge-
mälde enthält, war ich im gold-
nen Zeitalter der Kunst; als ich die
Treppe hinaufgestiegen war, kam
ich ins silberne und eiserne unter
die alten Niederländer und Deut-
schen.“159 (Abb. 37, 38, 39, 40)
Die Betrachtung der ,Blüte‘
niederländischer Kunst im ersten
Stock und die Betrachtung der Geschichte niederländischer Kunst im zweiten Stock des
Belvedere lassen zumindest die Idee aufkommen, dass Mechel hier dieselbe Zweiteilung
einer Kunstbetrachtung nach einerseits normativ ästhetischen und andererseits historisch
stilistischen Prinzipien einführte, die Winckelmanns Geschichte der Kunst des Alterthums
bestimmte. Auch die Argumentation in der Ankündigung zum niemals erschienenen
Catalogue raisonné zur Neuaufstellung im Oberen Belvedere, worin Mechel formuliert,
dass er „bald die Kunst“ und „bald die blosse Geschichte“ angehen würde, lässt dieses
Denkmuster annehmen.160
Denkanstöße für die Galerieaufstellung durch Mechel hält auch die Art und Weise
bereit, wie Winckelmann die unterschiedlichen methodischen Hinsichten, den normati-
ven und den historischen Diskurs, miteinander verknüpft. Die Trennung der beiden
Aspekte wird in der Geschichte der Kunst des Alterthums nicht kohärent durchgezogen.161
Winckelmann beschrieb im ersten normativen Teil ebenso die Entwicklung der Kunst
wie im zweiten historischen Teil die ideale Schönheit des Apoll von Belvedere, denn:
„Das Wesen der Kunst aber ist in diesem sowohl als in jenem Theile der vornehmste
Endzweck.“162 Einander überlagernde Prozesse lassen sich auch in der Galerieauf-
stellung durch Mechel ausmachen, wo im ersten ,normativen‘ Stock die historische
Entwicklung innerhalb der regionalen Schule oder eines Œuvres gezeigt, während im
zweiten ,historischen‘ Stock die Kunst in ihrer „ganzen Entwicklung des Talents“163
dargeboten wird.
Das „Wesen der Kunst“ würde nach Winckelmann in der Ausbildung eines regionalen
oder nationalen Stils sichtbar werden, der jeder Kunstproduktion anhaften würde.164 So
wären jeder antiken Nation ihr spezifischer Stil und ihre Stilentwicklung, die sie von allen
anderen unterscheidet, eigen. Diese überindividuelle Ausdrucksform einer Region oder
Nation verbindet sich bei Mechel mit dem Begriff der Schule. In Winckelmanns histori-
schem System war die Periodisierung umso stärker, je reicher die Kunstentwicklung einer
Nation war. Die Sequenz der am meisten entfalteten griechischen Kunst wies vier Epo-
chen auf: auf den „älteren Stil“, der hart und eckig war, folgte der „große“, eigentlich
ideale Stil im 4. Jahrhundert v. Chr. und der „schöne“, fließende und graziöse Stil im
5. Jahrhundert v. Chr., bis schließlich der „Verfall“, kein Stil, einsetzte und die griechische
Abb. 37
„Dritte Wand, mit der Ausgangs-Thüre“ im
ersten Zimmer („Gemälde der ersten Nieder-
ländischen Meister“) der niederländischen
Schule im zweiten Stock des Oberen Belvede-
re. Digitale Rekonstruktion nach Mechel 1783
(Rekonstruktion: Autorin)
Die kaiserliche Gemäldegalerie in Wien und die Anfänge des öffentlichen Kunstmuseums
Die Kaiserliche Galerie im Wiener Belvedere (1776–1837), Band 1
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Titel
- Die kaiserliche Gemäldegalerie in Wien und die Anfänge des öffentlichen Kunstmuseums
- Untertitel
- Die Kaiserliche Galerie im Wiener Belvedere (1776–1837)
- Band
- 1
- Autor
- Gudrun Swoboda
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2013
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-79534-6
- Abmessungen
- 24.0 x 28.0 cm
- Seiten
- 312
- Kategorie
- Kunst und Kultur