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321 Wolf Museumskulturen
Abb. 3
Hans Baldung Grien, Merkur,
1530–1540, Öl auf Holz, 64 x 194 cm.
Stockholm, Nationalmuseum
diesen neuen Galerien entsteht eine große Gedächtnismaschine, die in den Neuordnungen
zugleich auch eine Maschine des Vergessens ist oder des öffentlichen Verbergens von
Wissen, nämlich in der scheinbaren Naturalisierung geschichtlicher Prozesse in einer
Abfolge oder Koexistenz von Schulen.
2. VON BALDUNG GRIENS MERKUR IM STOCKHOLMER
NATIONALMUSEUM ZUM APOLL VOM BELVEDERE IM
PÄPSTLICHEN ROM
An dieser Stelle sei mir ein bildliches Zwischenspiel erlaubt: Bei einem Besuch des
Nationalmuseums in Stockholm bleibe ich unvorbereitet vor einem Bild stehen, das mich
aus der Fassung bringt. Der Zurbarán daneben interessiert mich nicht mehr, andere Werke
auch nicht, während ich mich an dem Witz dieses Bildes ergötze, das von Hans Baldung
Grien stammt: des ganzfigurigen Bildes eines Merkur mit feinmalerischen Federn und
Flügeln an den überraschendsten Stellen seines Körpers, dahinter ein Löwe, der sein
Spiegelbild betrachtet, wie Albertis Narziss usf. (Abb. 3). Das Gemälde führt nach Prag und
von dort nach Nürnberg, war wohl Teil einer astronomischen Uhr, an seinem Ort ein Bild
planetarer Zeit. Es wäre in Wien, hätte es nicht der Dreißigjährige Krieg nach Schweden
verschlagen: ein Fall zweifacher Kontingenz, einer Sammeltätigkeit und eines Kunstraubs.
Man sieht es dem Werk nicht an, wenn man es in der Sammlung in Stockholm betrachtet:
Es ist verborgenes Wissen; man könnte es in eine Ausstellung bringen, an einen anderen
Ort, in einen neuen Kontext.14 Das wäre ein gewöhnliches Beispiel kunsthistorischer Arbeit
im Kontakt mit Museen, aber eben eine geschichtlich konditionierte professionelle Praxis.
Grien bewegt sich selbst in einer Welt von Wunderdingen, astronomischen Uhren,
antiken Mythen, hybriden Wesen usf. Ich spreche vom europäischen Bildgedächtnis und
zugleich vom Verlust wie vom Archivieren einer Erinnerung (einer Verschränkung eines
medialen und eines topographischen Gedächtnisses, die sich in den Bildern und Bild-
ordnungen überschneiden, in der Überblendung von Schichten des Gedächtnisses durch
die Werke). Es gibt eine Tendenz, das Museum der Alten Meister mit Melancholie zu
durchschreiten, Melancholie über den Verlust jenes theatrum naturae et artis, das gerade die
Forschung über die Wunderkammer so zelebriert hat; erinnert sei nur an Horst Bredekamps
Buch über Antikensehnsucht und Maschinenglauben.15 Die Galerien begannen sich in einer
Zeit neu zu formieren, als ein anderer Melancholiker über kunstgeschichtliche Methoden
und Periodisierungen nachdachte: Ich spreche von Johann Joachim Winckelmann und
seinem Werk, zurückgebracht auf die Spannung zwischen historisch-stilgeschichtlichen
und normativen, transhistorischen Postulaten im sich am Horizont abzeichnenden Zusam-
menbruch des Kanons – man könnte sagen: am Ende der Epoche des Apoll vom Belvedere,
deren letzter Vertreter Winckelmann ja auch ist, trotz seiner Entwicklung kunstgeschicht-
licher Methoden.
Denken wir an den schon vor dem Kunstraub in Paris vor Augen gestellten Apoll in
Hubert Roberts16 Imagination der Grande Galerie des Louvre in Ruinen von 1789, oder
schon an die Auffindung des Laokoon von 1773, wo die von Arbeitern mühselig betriebene
Maschinerie im Bildvordergrund den realen Transfer bildlich antizipiert (Abb. 4), und dies
bringt uns nach Rom. Wenn wir einen Quotienten bilden zwischen der Oberfläche eines
Territorialstaates und derjenigen seiner museal genutzten Räume, so ist dieser im Vatikan-
staat am kleinsten. (Saadyat mag hierzu künftig eine Konkurrenz bilden.) Das liegt natür-
lich zum einen an der Verkleinerung des Patrimonium Petri im 19. Jahrhundert und der
Vergrößerung der museal zugänglichen Räume über die letzten Jahrzehnte; gleichwohl
ist dies eine beeindruckende Konstellation. Ein weiteres: Wenn wir durch die großen euro-
Die kaiserliche Gemäldegalerie in Wien und die Anfänge des öffentlichen Kunstmuseums
Europäische Museumskultur um 1800, Band 2
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Titel
- Die kaiserliche Gemäldegalerie in Wien und die Anfänge des öffentlichen Kunstmuseums
- Untertitel
- Europäische Museumskultur um 1800
- Band
- 2
- Autor
- Gudrun Swoboda
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2013
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-79534-6
- Abmessungen
- 24.0 x 28.0 cm
- Seiten
- 264
- Kategorie
- Kunst und Kultur