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409 Savoy Unschätzbare Meisterwerke
zer gemeint war, macht ein Blick in die ausgefüllten Seiten des Inventaire Napoléon deut-
lich (Abb. 2). Zu lesen sind hier Einträge wie „anc. col. de la Couronne“ (ehemalige könig-
liche Sammlung), „Conquête 1806“, „Palais Pitti à Florence“, „Conquête 1809“. Mit HER-
KUNFT war also eine Dokumentation der Besitzverhältnisse unmittelbar vor der
Nationalisierung bzw. martialischen Konfiszierung der Objekte durch Frankreich gemeint,
die Erfassung ihres Status als displaced objects in Folge der Aneignungs- und Verstaatli-
chungspolitik der französischen Republik und des Empire. So verbergen sich hinter „Con-
quête 1806“ Orte wie Berlin, Potsdam, Kassel, Schwerin, Braunschweig, Danzig und War-
schau; hinter „Conquête 1809“ Wien. Wenn man sich vergegenwärtigt, dass europaweit
kaum ein Museumsinventar des 18. Jahrhunderts die Herkunft seiner Werke verzeichnete
– die Inventare der Gemäldegalerien in Kassel (Abb. 3) und Dresden (Abb. 4) geben keine
Auskunft über die noch so namhaften Vorbesitzer ihrer Werke – so wird klar, dass der „ca-
talogue général“ eine andere Praxis fortsetzte und formalisierte als die bis dahin in Europa
geltenden. Ausschlaggebend waren hier offensichtlich: einerseits die junge, intensiv betrie-
bene Praxis der Aufstellung von Beschlagnahmungslisten und -protokollen, die in Frank-
reich ab 1791 den innerstaatlichen Transfer von beweglichen Gütern in den neuen Staats-
besitz begleiteten und naturgemäß ganz wesentlich mit der Frage der Herkunft operierten
(Abb. 5);7 andererseits das nach der Revolution theoretisierte und praktizierte neue Ver-
ständnis von Kunstbesitz, das die Aneignung und Integration weitverstreuter Sammlun-
gen als hohe zivilisatorische Leistung stilisierte. Indem das Inventaire Napoléon den dyna-
mischen, ja chaotischen Prozess dieser Fusionierung in einer nüchternen, objektivierten,
administrativen Spalte HERKUNFT festhielt, trug es zur Selbstvergewisserung der eigenen
Staatspotenz bei. Dass zwischen den Zeilen des Inventaire Napoléon also die Idee der trans-
latio imperii mitschwingt, der Wanderung von Kultur, Wissen und Herrschaft von alten
Weltreichen in neue, muss an dieser Stelle nicht eigens betont werden: Nicht nur die reale
Akkumulation von Kunstwerken in Frankreich, sondern auch die konzentrierte, statistische
Erfassung ihrer prominenten Vorbesitzer und Standorte trugen zur Erzeugung eines ge-
waltigen symbolischen Kapitals bei. Dass im „catalogue général“ neben der Spalte HER-
KUNFT gleich zwei Spalten für den PREIS der Kunst vorgesehen waren, erscheint vor die-
sem Hintergrund nur konsequent. Es ging in diesem Verzeichnis um Kunst als Kapital.8
Anders als bei der Spalte HERKUNFT scheint es zwischen den Konzeptoren des Inven-
taire Napoléon über die Aufnahme einer Spalte PREIS gleich einen Konsens gegeben zu ha-
ben: Zwar beinhaltete das erste von Beyle vorgeschlagene „Modell eines Protokolls“ keine
solche Rubrik, doch tauchte sie bereits in Denons Gegenentwurf auf und wurde von Daru
übernommen.9 Die einzutragenden Summen sollten einheitlich in Francs angegeben wer-
den, was angesichts der Währungsvielfalt in Europa und der um 1810 in Frankreich immer
noch herrschenden Konkurrenz vieler verschiedener Währungen retrospektiv als Segen
angesehen werden kann – ähnlich übrigens wie der Eintrag der Maße aller Kunstwerke in
Zentimetern und Metern statt in den jeweiligen Maßeinheiten ihrer Ursprungsländer, von
der Toskanischen Elle bis zum Preußischen Fuß. Die Spalte PREIS war zweigeteilt und be-
traf einerseits die Kunstwerke selbst, andererseits ihre Rahmen und Sockel. Aus heutiger
Perspektive mag diese prononcierte Aufmerksamkeit für Rahmen überraschend sein. Sie
war in der Zeit um 1800 aber kein Novum: bereits der Catalogue des tableaux du Roi dépo-
sés au Louvre von 178510 und der Etat actuel des tableaux de la surintendance11 von 1788
beispielsweise vermerkten das Alter und den Zustand der „bordures“. Völlig neu allerdings
war die Nennung eines konkreten Geldwertes für Kunstwerke in musealem Besitz. Weder
die Verzeichnisse des Ancien Régime in Frankreich noch vergleichbare Inventare anderer
öffentlicher Sammlungen in Europa scheinen vor 1810 mit dieser Kategorie operiert zu ha-
ben. Wozu denn auch? Versicherungswerte, wie wir sie heute kennen, spielten im frühen
19. Jahrhundert für Museen keine Rolle – umso weniger als die Praxis temporärer Kunst-
Die kaiserliche Gemäldegalerie in Wien und die Anfänge des öffentlichen Kunstmuseums
Europäische Museumskultur um 1800, Band 2
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Titel
- Die kaiserliche Gemäldegalerie in Wien und die Anfänge des öffentlichen Kunstmuseums
- Untertitel
- Europäische Museumskultur um 1800
- Band
- 2
- Autor
- Gudrun Swoboda
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2013
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-79534-6
- Abmessungen
- 24.0 x 28.0 cm
- Seiten
- 264
- Kategorie
- Kunst und Kultur