Seite - 414 - in Die kaiserliche Gemäldegalerie in Wien und die Anfänge des öffentlichen Kunstmuseums - Europäische Museumskultur um 1800, Band 2
Bild der Seite - 414 -
Text der Seite - 414 -
414
Savoy Unschätzbare Meisterwerke
UNSCHÄTZBARES SCHÄTZEN LASSEN
Doch ein Schritt zurück. Wie gestaltete sich die Arbeit am Inventaire Napoléon ab Ende
1810 konkret? Wer war für die Erfassung der darin verzeichneten über 4400 Gemälde,
1808 antiken Statuen und 61 Vasen, über 6500 Handzeichnungen und anderen Kunstob-
jekte in insgesamt 17 Foliobänden zuständig? Wer vor allem für die Schätzung von Wer-
ken, die bis zu ihrem Abtransport nach Paris in vielen Fällen kein einziges Mal den Besitzer
gewechselt oder niemals in ihrer Geschichte auf dem Markt gewesen waren? Wie wollte
man da Preise bestimmen? Wer sollte darüber entscheiden, wie Raffael, Dürer, Rem-
brandt, Tizian und die Laokoongruppe in Francs umzurechnen waren? Über all diese Fra-
gen gibt der Briefwechsel des Generaldirektors Denon dankenswerterweise einige Aus-
kunft. Deutlich wird bei der Lektüre, mit welcher Geschwindigkeit bei knappen Personal-
ressourcen das Inventar zustande kam und welche Synergien zwischen Markt und Museum
erzeugt werden mussten, um den „unschätzbaren Meisterwerken“, wie es damals oft
hieß, einen angemessenen Schätzpreis verleihen zu können. Beide Projekte – die grund-
sätzliche Beschreibung, Bemessung und Verortung der Werke einerseits, ihre Schätzung
andererseits – erfolgten bezeichnenderweise nicht parallel, sondern sukzessive. Zwei un-
terschiedliche Teams waren unter Denons Leitung nacheinander am Werke: Zunächst ar-
beiteten innerhalb des Museums die zwei Konservatoren Ennio Quirino Visconti (für die
Antiken) und Jean-Baptiste Morel d’Arleux (für die Zeichnungen), wohl unterstützt von
dem Museumssekretär Athanase Lavallée (für die Gemälde) sowie von zwei bis drei Hilfs-
kräften; erst nach Beendigung ihrer Arbeit im Oktober 1813 rief Denon eine zweite Grup-
pe von Experten zusammen, die ausschließlich für die Schätzung der Werke fungieren
sollten. Die Einladung, die ihnen Denon zukommen ließ, verdient es ausführlich zitiert zu
werden, gewährt sie doch einen präzisen Einblick in die pragmatische Herangehensweise
des Generaldirektors. Er schrieb jedem von ihnen am 11. Oktober 1813 folgende Zeilen:
„Monsieur,
Das Generalinventar der im Musée Napoléon und in den kaiserlichen
Schlössern aufbewahrten Gemälde, Zeichnungen, Statuen und kostbaren
Gegenstände ist nun abgeschlossen; jetzt geht es darum, jedem beschrie-
benen Gegenstand einen Preis beizufügen. Ich will mich für ein so bedeu-
tendes Unternehmen nicht bloß auf meine Kenntnisse und die der Konser-
vatoren in diesem Hause stützen und habe deshalb gedacht, dass Sie mich
vielleicht mit ihrer Kompetenz unterstützen könnten.
Ich lade Sie also ein, Monsieur, am kommenden Mittwoch dem 13. Oktober
ins Museum zu kommen, um mit einigen ebenfalls von mir eingeladenen
Kontrahenten die Arbeit aufzunehmen. Aus den widersprüchlichen Diskus-
sionen über den Preis der Objekte soll ihr wirklicher Wert [„la valeur réelle“]
ermittelt werden.“18
Was für ein schöner Brief! Hier schwingen alle Elemente mit, die bei aller Unsicherheit die
Zuversicht Denons zum Ausdruck bringen, man könne für die Kunstschätze im Musée Na-
poléon eine „valeur réelle“ – vielleicht im Gegensatz zu einem „gefühlten Wert“ – ermit-
teln, und dies bezeichnenderweise durch kontroverse Gespräche vor Ort. Objektivitäts-
erzeugung durch die Konfrontation von Subjektivitäten – ein deutlicheres Bekenntnis zum
irrationalen Charakter von Preisbestimmungen im Kunstbereich lässt sich nicht so leicht
finden.
Wer also waren die drei Angefragten? Es handelte sich durchwegs, wie Denon sie in
späteren Briefen nannte, um Pariser „négociants en objets d’art“19 bzw. „artistes-négo-
Die kaiserliche Gemäldegalerie in Wien und die Anfänge des öffentlichen Kunstmuseums
Europäische Museumskultur um 1800, Band 2
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Titel
- Die kaiserliche Gemäldegalerie in Wien und die Anfänge des öffentlichen Kunstmuseums
- Untertitel
- Europäische Museumskultur um 1800
- Band
- 2
- Autor
- Gudrun Swoboda
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2013
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-79534-6
- Abmessungen
- 24.0 x 28.0 cm
- Seiten
- 264
- Kategorie
- Kunst und Kultur