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453 Patz Schulzimmer
folgenden Epochen, während der nördliche Kulturkreis höchstens vermittelt an der Antike
partizipiere. Aus diesem Grund entfalte sich in ihm eine eigenständige Formgestaltung,
die nicht so sehr der Idealität verpflichtet ihren Ausdruck auf der Seite des ‚Naturalismus’
finden könne.
Die Konstruktion der eigenen Nationalschule musste dann zum Problem werden,
wenn diese im Kanon der Schulen nur rudimentär berücksichtigt oder in ihm überhaupt
nicht vertreten war. Frankreich war hier zumeist nur durch einige in Rom tätige Künstler
des 17. Jahrhunderts repräsentiert. Selbst im Katalog des Palais Royal von 1786 bildeten
sie das Schlusslicht nach den Flamen, Holländern und Deutschen.59 Das Problem war im
gesamten 18. Jahrhundert virulent; ihm wurde in der Revolutionszeit und unter Napoleon
mit Nachdruck begegnet. Der Kunstkenner und Kunsthändler Jean Baptiste-Pierre Lebrun
befürwortete in seinen Quelques idées sur la disposition, l‘arrangement et la décoration du
Muséum National60 die Einteilung der Grande Galerie des Louvre in neun Kompartimente für
die unterschiedlichen nationalen Schulen, wobei das 5. bis zum 8. Kompartiment der fran-
zösischen Kunst reserviert war. Die Präsentation der französischen Schule reichte – hierin
der Konstruktion der deutschen Schule durch Mechel verwandt – von der Vergangenheit
bis zur Gegenwart; zudem sollte in den Gattungen Malerei, Skulptur und Architektur eine
nationale Zusammenschau ermöglicht werden. In Form von vorwiegend Spolien, Bildhau-
erarbeiten, Denkmälern und Grabmälern Frankreichs hatte der Archäologe, Konservator
und Gründer des Musée des Monuments français, zeitweise Musée de Sculpture comparée,
Alexandre Lenoir, ein vergleichbares Argument für die lange Tradition der französischen
Kunst geliefert.61 Erst in den kommenden Jahren wurde die wahrgenommene Unzugäng-
lichkeit der Französischen Schule durch das Musée Napoléon und durch aktive Förderung
einer nationalen Schule kompensiert.62 Nach der Auftaktleistung des Wiener Belvedere er-
öffnete man 1799 den restaurierten Teil der Grande Galerie des Louvre. Nach nationalen
Schulen präsentierten sich dort nun neben französischen Meistern, chronologisch geord-
net, die Werke niederländischer und deutscher Malerei und, nach lokalen Schulen einge-
teilt, die Italiener. Die museale Präsentation spielte hier eine doppelte Rolle: Ideologische
Neutralisierung war zu leisten und eine Neuinterpretation zu ermöglichen. Das Kunstwerk
als einzelnes wie auch die Aneinanderreihung in der historischen Stufenfolge konnten so
einem neuen Konzept dienstbar gemacht werden: Die Anordnung der Werke innerhalb ei-
ner chronologischen Abfolge hatte die Geschichte der Kunst mit der allgemeinen Ge-
schichte des stetigen Fortschritts der menschlichen Gesellschaft zu parallelisieren.
Doch selbst dann, wenn ein Land im Kanon der nationalen Schulen stilprägend vertre-
ten war, hieß dies nicht automatisch, dass die museale Präsentation diese Ordnung nun-
mehr widerspiegelte. Fehlte eine vollzogene Instrumentalisierung der Sammlungen, dann
ließ sich eine deutliche Verzögerung bei der Bildung der Kunstmuseen im modernen Ver-
ständnis beobachten. Dies betrifft England, wo trotz eines langen Vorlaufs eine konse-
quente Hängung nach Schulen erst mit dem ersten Direktor der National Gallery, Charles
Eastlake, ab der Mitte der 50er Jahre des 19. Jahrhunderts einsetzte.63 Wie stark die politi-
sche Lage die Situation der bildenden Künste behindern konnte, zeigt jenes Land, das stil-
bildend für die nördliche Kunstlandschaft gewesen war. Mit der Auflösung der Republik
stand auch das Schicksal dieser Sammlungen auf dem Spiel.64 Der anfängliche Ausverkauf
des Vermögens der nach England geflohenen Oranier wurde schließlich mit dem Argu-
ment gestoppt, das Vermögen der Oranier sei Erbe der Republik. Die nach dem mehr als
drei Jahre dauernden Ausverkauf und dem napoleonischen Kunstraub verbliebenen Reste
bilden den Grundbestand des 1800 gegründeten Nationalmuseums, vorerst unter dem
Namen Nationale Kunst-Galerij. Die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit der kultu-
rellen Tradition war in den Niederlanden zu diesem Zeitpunkt noch Desiderat; Vorgaben
für die Konzeption und Gestaltung des Rijksmuseum fehlten daher. In weiten Teilen wurde
Die kaiserliche Gemäldegalerie in Wien und die Anfänge des öffentlichen Kunstmuseums
Europäische Museumskultur um 1800, Band 2
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Titel
- Die kaiserliche Gemäldegalerie in Wien und die Anfänge des öffentlichen Kunstmuseums
- Untertitel
- Europäische Museumskultur um 1800
- Band
- 2
- Autor
- Gudrun Swoboda
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2013
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-79534-6
- Abmessungen
- 24.0 x 28.0 cm
- Seiten
- 264
- Kategorie
- Kunst und Kultur