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Décultot Museum als sichtbare Geschichte
nicht das Gefällige und Vollkommene allein, sondern abwechselnde Kon-
traste, durch deren Betrachtung und Vergleichung (den einzigen Weg zur
Kenntniß zu gelangen) er Kenner der Kunst werden kann.“67
Trotz aller Berufungen auf die Geschichte bleibt allerdings Mechels museale Arbeit einem
normativen Ansatz unterschwellig verpflichtet. Den Werken großer Meister wie etwa Ru-
bens oder van Dyck wies er eigene Räume zu, um ihnen die gebührliche Anerkennung zu
zollen.68 Diese räumliche Hervorhebung der Meisterwerke spiegelte sich im gedruckten
Verzeichnis wider. Im Katalog wurden die besten, seltensten und der Aufmerksamkeit wür-
digsten Bilder mit einem Sternchen versehen.69
Eine ähnliche Spannung zwischen einem historischen und einem normativen Kunstbe-
griff hatte Mechel schon in Winckelmanns Erstlingsschrift, den Gedancken über die Nach-
ahmung der Griechischen Wercke, vorfinden können. Einerseits wurde dort ein griechisches
Schönheitsmodell entworfen, das zum übergeschichtlichen Vorbild erhoben wurde —
und dies, abgesehen von den je besonderen historischen und kulturellen Zusammenhän-
gen, welche sowohl das nachzuahmende Objekt als auch den Nachahmer bedingen. An-
dererseits zählte aber Winckelmann im selben Text die absolut einmaligen historischen Be-
dingungen auf, welche zum Erreichen jener einmaligen Höhe beigetragen hatten: mildes
Klima, Leibesertüchtigung, gesunde Ernährung und Kleidung, politische Organisation,
usw. Kurzum: die griechische Kunst sei einmalig, ihre Schönheit beruhe auf natürlichen
und politischen Umständen, welche in der Geschichte einzigartig seien. Und doch besitze
sie eine übergeschichtliche, normative Dimension und müsse deshalb nachgeahmt wer-
den. Diese Spannung zwischen historischer Bedingtheit und übergeschichtlicher Vorbild-
lichkeit der griechischen Kunst ließ sich bis in Winckelmanns späteres Werk hinein verfol-
gen. In der Geschichte der Kunst des Alterthums wurde zwar die griechische Kunst einer
stärkeren Historisierung unterzogen als in den Gedancken über die Nachahmung. Doch
blieb auch innerhalb der Geschichte der Kunst die frühere Zweipoligkeit bestehen, und
zwar ganz offenkundig schon in den Überschriften, die Winckelmann den beiden Haupt-
teilen seines Buchs gab. Im ersten Teil der Geschichte der Kunst galt es, die Kunst „nach
dem Wesen derselben“ zu analysieren, worauf im zweiten Teil eine Untersuchung „nach
den äußeren Umständen der Zeit“ folgte. Anders gesagt sollte die Kunst sukzessive als a-
historisches und als historisches Gebilde beschrieben werden – eine Zweiteilung, die bei
Die kaiserliche Gemäldegalerie in Wien und die Anfänge des öffentlichen Kunstmuseums
Europäische Museumskultur um 1800, Band 2
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Titel
- Die kaiserliche Gemäldegalerie in Wien und die Anfänge des öffentlichen Kunstmuseums
- Untertitel
- Europäische Museumskultur um 1800
- Band
- 2
- Autor
- Gudrun Swoboda
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2013
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-79534-6
- Abmessungen
- 24.0 x 28.0 cm
- Seiten
- 264
- Kategorie
- Kunst und Kultur