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507 Bickendorf Marco Lastris L’Etruria pittrice
mit dem Begriff der „oculare ispezione“ auf das Konzept von Malvasia zurückgriff. Empha-
tisch hatte Malvasia nämlich gefordert, das Urteil der Kunstgeschichte allein auf den opti-
schen Befund zu stützen:
„A me basterà il solo guidarvi ove possiate rendervene capace colla semplice occulare
ispezione.“8
Der Begriff der „oculare ispezione“ hat sich zunächst in der Kunstliteratur nach Malvasia
nicht durchsetzen können, obwohl der Appell zu einer verstärkten Autopsie in der Sache
Resonanz fand. Malvasia hatte den Begriff eng auf das Vorbild der Naturwissenschaften,
ihre experimentellen Verfahren und optischen Befunderhebungen bezogen, indem er auf
die Praktiken in Florenz und London und damit wohl auf die Galilei-Schule und die Royal
Academy verwies. Er selbst hatte auf diesem Gebiet Erfahrungen in der Bologneser
Accademia dei Gelati sammeln können. Sein Vorschlag, die kunsthistorische Forschung am
naturwissenschaftlichen Vorbild auszurichten und auf diesem Weg zu einer „evidenza del
fatto“ zu gelangen, enthielt allerdings keine konkreten methodischen Anknüpfungspunkte
und blieb zunächst folgenlos.
Lastri nahm den Begriff der „oculare ispezione“ auf und scheint sogar in der Titelfor-
mulierung für sein Buch einen weiteren Hinweis auf Malvasias Felsina pittrice gegeben zu
haben. Allerdings verschoben sich bei ihm Bedeutung und Anwendung des Begriffs. Mal-
vasia hatte ihn ausschließlich auf die direkte Werkautopsie bezogen und den optischen Be-
fund als grundlegendes und korrigierendes Verfahren gegenüber den Archivstudien, vor
allem aber gegenüber der Wissenskompilation aus den Werken älterer Autoritäten betont.
Lastri dagegen verlagerte die „oculare ispezione“ in den Bereich einer vergleichenden Be-
trachtung auf der Grundlage druckgraphischer Reproduktionen. In L’Etruria pittrice sollte
die „storia delle Belle Arti“ visuell aus der Betrachtung einer chronologischen Reihung von
Graphiken erschlossen werden können – und zwar sowohl von den Forschern als auch von
den Liebhabern und Sammlern. Der „oculare ispezione“ wurde damit auch die Lösung der
alten, aber nach wie vor zentralen Streitfrage um den Beginn der Renaissance überantwor-
tet:
„E se dall’unica ispezione delle nostre stampe apparirà all’occhio di qualche semplice
Dilettante, come sia risorta la Pittura, per quali passi in ultimo abbia divagato fino a noi,
abbiamo ottenuto ampiamente l’intento.“9
Lastris Wendung in der „oculare ispezione“ basierte auf einem Visualisierungsschub in
der Kunstgeschichte, in der Altertumskunde und in der historischen Forschung, der sich
im 18. Jahrhundert und damit nach Malvasia vollzogen hatte. In der Visualisierung des
Wissens hatte sich in der Zwischenzeit tatsächlich ein Erfahrungsdruck von Seiten der
Naturwissenschaften aufgebaut.
Im Verlauf des 17. Jahrhunderts intensivierte sich zunächst in den Naturwissenschaften
die Tendenz, die Ergebnisse optischer Analysen zu visualisieren und sie durch die Verbrei-
tung im Druck zugänglich zu machen. Dies galt in besonderem Maße für die Resultate von
Beobachtungen mit dem Teleskop und dem Mikroskop. Ihr folgten phasenversetzt die Nu-
mismatik und Paläographie, Kirchen- und Herrschergeschichte sowie die Archäologie. Für
die Kunstgeschichte „entdeckte“ erst Roger de Piles die Möglichkeiten der Druckgraphik
als Instrument der Forschung, als er an der Wende zum 18. Jahrhundert seine Theorie der
Kennerschaft entwarf. Die Reproduktionen sollten seiner Auffassung nach den Kennern
dazu verhelfen, die künstlerischen Schulen ebenso voneinander zu unterscheiden wie ihre
Epochen, und ihnen ein Mittel in die Hand geben, „die Fortschritte und die Perfektion“,
„les progrès & la perfection“ zu erkennen. Dieses Programm setzten der Kenner Pierre-
Jean Mariette und der Verleger Pierre Crozat 1729 mit ihrem Recueil d’estampes auf höchs-
tem Niveau um, dessen zwei Bände jeweils 100 Reproduktionen nach den berühmtesten
Gemälden und Zeichnungen aus den bedeutendsten französischen Sammlungen enthiel-
Die kaiserliche Gemäldegalerie in Wien und die Anfänge des öffentlichen Kunstmuseums
Europäische Museumskultur um 1800, Band 2
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Titel
- Die kaiserliche Gemäldegalerie in Wien und die Anfänge des öffentlichen Kunstmuseums
- Untertitel
- Europäische Museumskultur um 1800
- Band
- 2
- Autor
- Gudrun Swoboda
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2013
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-79534-6
- Abmessungen
- 24.0 x 28.0 cm
- Seiten
- 264
- Kategorie
- Kunst und Kultur