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DEUTSCHLANDS KONFRONTATIVER UMGANG MIT DEM KOPFTUCH DER LEHRERIN
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denn Fereshta Ludin erhob damals Widerspruch und Klage gegen ihre
Ablehnung in Baden-Württemberg. Seitdem berichteten die Medien darüber
und boten Foren für die Meinungsverschiedenheiten in der Öffentlichkeit.
Vor dem ›Kopftuchurteil‹ von 2003 schien es – auch für Juristen und Ju-
ristinnen – in Deutschland undenkbar, dass die Problematik des Kopftuchs der
Lehrerin anders als nach einheitlichen Kriterien für die gesamte Bundesre-
publik entschieden werden würde, denn die Grundrechte des Grundgesetzes
(GG), namentlich die Glaubens- und Bekenntnisfreiheit des Art. 4 GG (siehe
auch Böckenförde in diesem Band), gelten bundesweit, ebenso wie auch das
Abwägungserfordernis zwischen ›positiver‹ und ›negativer‹ Religionsfreiheit
der Lehrerin und der Schüler/innen sowie der Art. 33 Abs. 2 GG, der allen
Deutschen gleichen Zugang zu öffentlichen Ämtern entsprechend Eignung,
Befähigung und fachlicher Leistung und unabhängig von der Religions-
zugehörigkeit (Abs. 3) garantiert. Die Expert/inn/en und Beobachter/innen,
auch das beklagte Land Baden-Württemberg, gingen davon aus, dass das
BVerfG entscheiden würde, ob man von Staats wegen – unter Einbeziehung
der Umstände des Einzelfalls – das Kopftuch als religiöses bzw. persönliches
Attribut würde tolerieren müssen und nach welchen Kriterien im Einzelfall
legitime persönliche, d.h. vor allem religiöse Gründe, von illegitimen po-
litischen Gründen oder Motiven zu unterscheiden seien.
Bekanntlich überraschte die Mehrheitsentscheidung des Zweiten Senats
jedoch die Experten- und Beobachterschaft. Heraus kam eine Entscheidung,
deren Widersprüchlichkeit sich bereits in den beiden Leitsätzen andeutete:
Der erste Leitsatz stellte klar, dass ein Verbot für Lehrkräfte, in Schule und
Unterricht ein Kopftuch zu tragen, im geltenden Recht Baden-Württembergs
»keine hinreichend bestimmte gesetzliche Grundlage« (BVerfGE 108, 282,
282) finde. Der zweite Leitsatz eröffnete den Bundesländern aber sogleich die
Möglichkeit, eine solche Verbotsgrundlage zu schaffen. Damit dürfe das »zu-
lässige Ausmaß religiöser Bezüge in der Schule« (ebd.) neu bestimmt werden,
und zwar aus Anlass »zunehmender religiöser Pluralität« (ebd.), die einen ge-
sellschaftlichen Wandel herbeiführe bzw. -geführt habe. Damit wurde einer-
seits das individuelle Recht der Beschwerdeführerin anerkannt, ein Kopftuch
im Unterricht zu tragen, solange kein spezifisches Verbotsgesetz existiert,
womit der Grundrechtsstatus von beamteten Lehrern und Lehrerinnen auf-
gewertet wurde. Andererseits aber erteilte die Senatsmehrheit den Bundes-
ländern einen faktischen Freibrief, genau dieses Grundrecht des Art. 4 GG
bezüglich der Religionsausübung von Lehrerinnen durch relativ anspruchs-
lose Verbotsgesetze auszuhöhlen und die pluralistische Freiheitsgarantie des
Art. 4 GG zu unterlaufen.
Mit dem Urteil des BVerfG erhielt Fereshta Ludin zwar zunächst ›Recht‹,
aber nur für einen Augenblick. Weil den Bundesländern die Möglichkeit nun
eröffnet war, religiöse, weltanschauliche oder politische Kleidung oder Zei-
Der Stoff, aus dem Konflikte sind
Debatten um das Kopftuch in Deutschland, Österreich und der Schweiz
- Titel
- Der Stoff, aus dem Konflikte sind
- Untertitel
- Debatten um das Kopftuch in Deutschland, Österreich und der Schweiz
- Autoren
- Sabine Berghahn
- Petra Rostock
- Verlag
- transcript Verlag
- Datum
- 2009
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-89942-959-6
- Abmessungen
- 14.7 x 22.4 cm
- Seiten
- 526
- Schlagwörter
- Religion, Migration, Geschlechterverhältnisse, Demokratie, Rechtssystem, Politik, Recht, Islam, Islamwissenschaft, Gender Studies, Soziologie, Democracy, Politics, Law, Islamic Studies, Sociology
- Kategorie
- Recht und Politik