Seite - 62 - in Der Stoff, aus dem Konflikte sind - Debatten um das Kopftuch in Deutschland, Österreich und der Schweiz
Bild der Seite - 62 -
Text der Seite - 62 -
SABINE BERGHAHN
62
des holländischen Filmregisseurs Theo van Gogh, die das Scheitern der mul-
tikulturellen Gesellschaft besiegeln möchten, obwohl diese noch nicht einmal
angefangen hat realisiert zu werden.
Weitere Bedingungsfaktoren für die Durchsetzung von pauschalen Kopf-
tuchverboten auch ohne Ausnahmeklauseln in den weniger an die christliche
Tradition und an die katholische Konfession gebundenen Bundesländern wie
Berlin, Bremen und Niedersachsen sind naheliegenderweise die fortschrei-
tende Säkularisierung und daraus folgend die Grundannahme, dass die Ab-
wesenheit von religiöser Bindung inzwischen der Normalzustand in der Mo-
derne sei, die Religionsbindung dagegen die Ausnahme. Religiöse Überzeu-
gungen und Bindungen – zumal an einen ›fremden Glauben‹ – stehen daher
im Verdacht, Störungen und Konflikte zu verursachen, so dass die pro-
phylaktische Ausschaltung solcher Konfliktentzündungsmechanismen wie des
Kopftuchtragens geradezu geboten erscheint. Anders als in Frankreich und
vielleicht in manchen frankophonen Kantonen der Schweiz ergibt sich diese
deutsche ›Laizität‹ nicht aus einer emphatischen Vorstellung von republi-
kanischer ›Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit‹, sondern eher aus der Angst
vor konfliktuösen Anlässen. Insofern sind Kopftuchverbote für Lehrerinnen
auf einer anderen Ebene das, was die Verbotsbefürworter als die sexuelle
Geschlechterlogik des Kopftuchs selbst anprangern, nämlich unwiderstehliche
Reize zu unterbinden, mit denen das Gegenüber dazu veranlasst wird, die
Kontrolle über verhängnisvolle Triebe zu verlieren. Während die Verhüllung
der Frau Männer vor sexuellen Exzessen bewahren soll, scheint das Kopf-
tuchverbot vor allem dazu gedacht zu sein, vor dem ›Anderen‹, dem Fremden
zu schützen und ›uns‹ vor dem Ausbruch eigener Ängste und Aggressionen
zu bewahren – angesichts der Zumutung, Fremde ›als Gleiche‹ respektieren
zu sollen.
Die divergenten Einflüsse des europäischen Rechts
Für die Frage, wie es weitergehen soll und vermutlich wird, ist von Bedeu-
tung, ob sich mit Hilfe europarechtlicher und/oder menschenrechtlicher Maß-
stäbe etwas gegen die deutschen Kopftuchverbote einwenden lässt und wie
dies prozedural erfolgreich geltend gemacht werden könnte.
Die supranationalen Vertrags- und Richtliniennormen fokussieren nicht
etwa auf zu vereinheitlichende Staat-Kirche-Beziehungen, sondern auf die
Verhinderung von Diskriminierung wegen der Religion oder Weltanschau-
ung. In die Amsterdamer Fassung des EG-Vertrags wurde Art. 1336 aufge-
36 Text von Art. 13 EGV (Amsterdamer Fassung v. 1997): »Unbeschadet der sons-
tigen Bestimmungen dieses Vertrags kann der Rat im Rahmen der durch den
Vertrag auf die Gemeinschaft übertragenen Zuständigkeiten auf Vorschlag der
Kommission und nach Anhörung des Europäischen Parlamentseinstimmig ge-
Der Stoff, aus dem Konflikte sind
Debatten um das Kopftuch in Deutschland, Österreich und der Schweiz
- Titel
- Der Stoff, aus dem Konflikte sind
- Untertitel
- Debatten um das Kopftuch in Deutschland, Österreich und der Schweiz
- Autoren
- Sabine Berghahn
- Petra Rostock
- Verlag
- transcript Verlag
- Datum
- 2009
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-89942-959-6
- Abmessungen
- 14.7 x 22.4 cm
- Seiten
- 526
- Schlagwörter
- Religion, Migration, Geschlechterverhältnisse, Demokratie, Rechtssystem, Politik, Recht, Islam, Islamwissenschaft, Gender Studies, Soziologie, Democracy, Politics, Law, Islamic Studies, Sociology
- Kategorie
- Recht und Politik