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SABINE BERGHAHN
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müssen. Tulkens widerlegte explizit die beiden Argumente, dass der verfas-
sungsrechtliche Säkularismus der Türkei und die Geschlechteregalität durch
das Kopftuch in Frage gestellt würden. Sie ging auf die unausgesprochen in
das Verfahren eingebrachte Befürchtung ein, dass islamistische Praktiken im
Bildungssystem und in anderen öffentlichen Sektoren sich ausbreiten und
einen faktischen Zwang für andere Studentinnen und Frauen allgemein eta-
blieren könnten, das Kopftuch – gegen ihren Willen – anzulegen. Solche
Gefahren seien staatlicherseits beherrschbar und dürften nicht als paterna-
listische Vorwände benutzt werden, um Individuen, zu deren Schutz die Reli-
gionsfreiheit diene, legitime Persönlichkeitsentfaltungsrechte zu nehmen.42
Die Kritik von Tulkens wird in der Szene der Expert/innen mit liberalem,
frauenpolitischem und multikulturellem Hintergrund geteilt; daher hofft man
allgemein auf gegenläufige Impulse anderer Gerichte und aus der Politik in
Mitgliedstaaten, insbesondere wird vom EuGH erwartet, dass er Gelegenheit
dazu bekommt, die individualrechtliche Perspektive des Antidiskriminie-
rungsrechts stark zu machen.
Der Europäische Gerichtshof:
bislang keine Entscheidung zum Kopftuch
Entscheidungen des EuGH zu ›Kopftuchfällen‹ gibt es allerdings bislang
nicht. Es ist aber vorstellbar und im Hinblick auf Fälle von deutschen Lehre-
rinnen sogar wahrscheinlich, dass der EuGH von einem deutschen Gericht im
Rahmen des Verfahrens zur ›Vorabentscheidung‹ (Art. 234 EGV) angerufen
wird. In einem solchen Fall stehen die Chancen nicht schlecht, dass der EuGH
solche Fälle ganz anders beurteilt als der EGMR. Denn der EuGH legt seit
jeher großen Wert auf eine möglichst weit gehende tatsächliche Durchsetzung
von Diskriminierungsverboten vor allem im Arbeitsleben und betrachtet daher
auch beamtete Lehrerinnen in erster Linie als Arbeitnehmerinnen, die ihr
Recht auf Religionsfreiheit und -ausübung wahrnehmen dürfen. Die einschlä-
gige EuGH-Rechtsprechung besteht aus zahlreichen Entscheidungen zu per-
sönlichen Diskriminierungen vornehmlich im Arbeitsrecht, aber auch in der
sozialen Sicherung, in Qualifizierungen und im Zivilrecht, größtenteils ging
es dabei um Benachteiligungen in Bezug auf das Geschlecht. Vor 2000 gab es
nämlich nur Richtlinien mit Diskriminierungsverboten bezüglich des Ge-
schlechts für die Mitgliedstaaten, seit 2000 existieren dagegen Richtlinien mit
dem erweiterten Merkmalskatalog, die mittlerweile in nationale Verbots- und
Schutzgesetze umgesetzt wurden. Als tangiertes Diskriminierungsmerkmal
kommt hier in erster Linie Religion in Frage, sodann aber auch Geschlecht
und Ethnie, da nur Frauen von dem islamischen Bedeckungsgebot betroffen
42 Ebd., Dissenting Opinion of Judge Tulkens im ›Fall Şahin v. Turkey‹, S. 42-53.
Der Stoff, aus dem Konflikte sind
Debatten um das Kopftuch in Deutschland, Österreich und der Schweiz
- Titel
- Der Stoff, aus dem Konflikte sind
- Untertitel
- Debatten um das Kopftuch in Deutschland, Österreich und der Schweiz
- Autoren
- Sabine Berghahn
- Petra Rostock
- Verlag
- transcript Verlag
- Datum
- 2009
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-89942-959-6
- Abmessungen
- 14.7 x 22.4 cm
- Seiten
- 526
- Schlagwörter
- Religion, Migration, Geschlechterverhältnisse, Demokratie, Rechtssystem, Politik, Recht, Islam, Islamwissenschaft, Gender Studies, Soziologie, Democracy, Politics, Law, Islamic Studies, Sociology
- Kategorie
- Recht und Politik