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SABINE BERGHAHN
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Gemäß § 8 AGG kommt es darauf an, ob hier die religiöse Nicht-Kundgabe
des eigenen Bekenntnisses (Kopftuch) »wegen der Art der auszuübenden
Tätigkeit oder der Bedingungen ihrer Ausübung eine wesentliche und ent-
scheidende berufliche Anforderung darstellt, sofern der Zweck rechtmäßig
und die Anforderung angemessen ist« (§ 8 Abs. 1 AGG). Walter und Ungern-
Sternberg legen hierzu überzeugend dar, dass nach den Maßstäben der EuGH-
Rechtsprechung keine generelle berufsbezogene Rechtfertigung möglich sei,
da in jedem Fall eine individualisierende Abwägung zu der Frage stattzu-
finden hat, ob eine konkrete Gefährdung der Neutralität oder des Schulfrie-
dens zu befürchten ist (Walter/Ungern-Sternberg: 884). Dem könne man auch
nicht die Rechtsprechung des EGMR im Fall ›Dahlab v. Switzerland‹ entge-
genhalten, da im Rahmen der EKMR nur Mindeststandards gesichert würden
und in die höheren Standards des europäischen Gemeinschaftsrechts auch die
Berufsfreiheit einzubeziehen sei, was bei der EKMR nicht der Fall ist (ebd.:
885). Der allfällige Verweis auf Frankreich, der sich übrigens auch zuneh-
mend in deutschen Gerichtsurteilen findet, so z.B. in der Entscheidung des
BVerwG vom 16.12.2008,43 ändert nichts an der juristischen Beurteilung,
dass das Gemeinschaftsrecht solche pauschalen Kopftuchverbote per Gesetz
als nicht zu rechtfertigende unmittelbare Diskriminierung ansehen müsste.
Zwar könne in der Tat angenommen werden, dass der EU-Ministerrat mit der
Verabschiedung der Richtlinien nicht die Laizität in den Schulen und im öf-
fentlichen Dienst Frankreichs abschaffen wollte, jedoch lasse sich für Frank-
reich möglicherweise geltend machen, dass dort ein starkes Verfassungs-
prinzip hinter den Verboten stehe, was für die Bundesrepublik Deutschland
aber gerade nicht zutreffe.
Somit lasse sich das pauschale Verbot im NRW-Schulgesetz nicht nach
dem AGG und nicht nach Art. 4 Abs. 1 der Rahmenrichtlinie 2000/78/EG
rechtfertigen. Walter und Ungern-Sternberg sehen es dagegen nicht als aus-
sichtsreich an, gegen das Schulgesetz wegen einer Diskriminierung auf Grund
des Geschlechts oder der ethnischen Herkunft vorzugehen, allenfalls ließe
sich hier eine mittelbare Benachteiligung geltend machen, die aber relativ
leicht zu rechtfertigen sei (ebd.: 886). Somit bleibt die Religionsfreiheit bzw.
die Benachteiligung Kopftuch tragender Lehrerinnen wegen ihrer Religion
das zentrale juristische Argument. Für die Vereinbarkeit mit deutschem Ver-
fassungsrecht auf der Bundesebene kommen Walter und von Ungern-Stern-
berg zu ähnlichen Ergebnissen (Walter/Ungern-Sternberg 2008b). Demnach
erfordert nämlich auch das vorbehaltlos garantierte Grundrecht der Religions-
freiheit (Art. 4 GG) notwendig eine Einzelfallabwägung (ebd.: 491), wobei
dies logischerweise nur auf konkrete Gefahren für Neutralität oder Schul-
43 BVerwG v. 16.12.2008, Ablehnung einer Nichtzulassungsbeschwerde einer
langjährigen Lehrerin aus Baden-Württemberg, Az. 2 B 46/08.
Der Stoff, aus dem Konflikte sind
Debatten um das Kopftuch in Deutschland, Österreich und der Schweiz
- Titel
- Der Stoff, aus dem Konflikte sind
- Untertitel
- Debatten um das Kopftuch in Deutschland, Österreich und der Schweiz
- Autoren
- Sabine Berghahn
- Petra Rostock
- Verlag
- transcript Verlag
- Datum
- 2009
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-89942-959-6
- Abmessungen
- 14.7 x 22.4 cm
- Seiten
- 526
- Schlagwörter
- Religion, Migration, Geschlechterverhältnisse, Demokratie, Rechtssystem, Politik, Recht, Islam, Islamwissenschaft, Gender Studies, Soziologie, Democracy, Politics, Law, Islamic Studies, Sociology
- Kategorie
- Recht und Politik