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NORA GRESCH/LEILA HADJ-ABDOU
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karitative Tätigkeiten ausführte (Sticker 2006: 40; Pintz 2006: 177). Nach fast
einem Jahrzehnt der Verhandlungen und Präzisierungen der Organisations-
struktur der künftigen Religionsgemeinde wurde im Mai 1979 die Geneh-
migung zur Konstituierung einer ersten ›Islamischen Religionsgemeinde‹ von
dem zuständigen Bildungsministerium erteilt (Pintz 2006: 177 ff). Gemäß der
Verfassung der IGGiÖ gehören ihr alle Angehörigen des Islams, die in Österreich
leben, an und zwar unabhängig von ihrem jeweiligen Staatsbürgerschaftsstatus
(Schima 1989: 546 ff).12 Der Antrag des ›Muslimischen Sozialdienstes‹ bezog sich
also auf den Anerkennungsstatus und die an diesen Status gekoppelten korpora-
tiven Rechte, deren Gewährleistung insbesondere für die öffentlichen Gestal-
tungsmöglichkeiten von Musliminnen und Muslimen eine entscheidende Rol-
le einnimmt und die IGGiÖ den anderen anerkannten Kirchen und Glaubens-
gemeinschaften rechtlich gleichstellt (Kalb et al. 2003: 112).13
Für die Erläuterung unserer Untersuchungsfrage, ob und inwieweit die
genannten Faktoren die ›toleranten‹ Kopftuchregulierungen sowie die Partizi-
pationsmöglichkeiten von Muslimen und Musliminnen erklären können, ist es
in Bezug auf den Faktor Kirche-Staat-Beziehung relevant, eine Ausdifferen-
zierung der bisherigen religionsrechtlichen Typologie vorzunehmen.
Österreich wird in der bisherigen religionsrechtlichen Typologisierung des
Verhältnisses von Staat und Religion wie Deutschland dem ›Kooperations-
oder Koordinationssystem‹ zugeordnet, das sich in Abgrenzung zu dem
›Trennungs- und Staatskirchensystem‹ als neutral gegenüber den anerkannten
Religionen versteht, religiöse Vereinigungen aber als zivilgesellschaftliche
Akteure im öffentlichen Raum akzeptiert (Potz 2007: 345; Brocker et al.
2003: 14). Diese Kategorisierung bleibt jedoch gerade im Hinblick auf unsere
Frage nach gesellschaftlichen Gestaltungsmöglichkeiten von muslimischen
Migrantinnen und Migranten sehr unspezifisch. Dies kann anhand eines ersten
Vergleichs der Kooperationssysteme in Österreich und Deutschland verdeut-
licht werden.
Ähnlich wie in Österreich besitzen in Deutschland einige Religionsge-
meinschaften den Status einer ›Körperschaft öffentlichen Rechts‹, der sie u.a.
dazu berechtigt Kirchensteuern zu erheben (Robbers 1995: 65 ff). Des Wei-
12 Zu den Spezifika und Diskussionen beziehungsweise Konfliktlinien, die sich auf
Grund einer allumfassenden Organisation und Repräsentation von aktiven und
passiven Mitgliedern sowie aller islamischen Denominationen ergeben haben
siehe Sticker 2006: 43 ff.
13 Bis zum heutigen Zeitpunkt sind in Österreich neben der IGGiÖ noch 13 weitere
Glaubensgemeinschaften, wie die ›Evangelische Kirche‹ oder die ›Österrei-
chische Buddhistische Religionsgesellschaft‹ als Kirchen und Religionsgesell-
schaften anerkannt (Potz/Schinkele 2005). Zu der Novellierung des ›Aner-
kennungs-gesetzes‹ 1998 und den erschwerenden neu eingeführten Voraus-
setzungen für eine Anerkennung als Religionsgemeinschaft siehe Kalb et al.
2003: 93 ff; ebenso Schima 2005: 117.
Der Stoff, aus dem Konflikte sind
Debatten um das Kopftuch in Deutschland, Österreich und der Schweiz
- Titel
- Der Stoff, aus dem Konflikte sind
- Untertitel
- Debatten um das Kopftuch in Deutschland, Österreich und der Schweiz
- Autoren
- Sabine Berghahn
- Petra Rostock
- Verlag
- transcript Verlag
- Datum
- 2009
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-89942-959-6
- Abmessungen
- 14.7 x 22.4 cm
- Seiten
- 526
- Schlagwörter
- Religion, Migration, Geschlechterverhältnisse, Demokratie, Rechtssystem, Politik, Recht, Islam, Islamwissenschaft, Gender Studies, Soziologie, Democracy, Politics, Law, Islamic Studies, Sociology
- Kategorie
- Recht und Politik