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NORA GRESCH/LEILA HADJ-ABDOU
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Auf Grund des beschriebenen rechtlich institutionalisierten Anerkennungs-
systems von religiösen Gemeinschaften sowie den damit einhergehenden
recht weit gehenden Autonomiebereichen wird Österreichs Kirche-Staat-Be-
ziehung wohl am prägnantesten als »pluralistische Hereinnahme von Religion
in die gesellschaftliche Öffentlichkeit« (Kalb et al. 2003: 16) beschrieben. In
diesem Zusammenhang ist jedoch zu erwähnen, dass, obwohl der ›Gleich-
heitssatz‹ für die anerkannten Religionsgesellschaften gilt (ebd.: 112), die ka-
tholische Kirche auf Grund historischer und politischer Kirche-Staat-Be-
ziehungen sowie der Tatsache, dass die Mehrheit der Österreicher und Öster-
reicherinnen sich zum katholischen Glauben bekennt, eine dominante Stellung in
der Öffentlichkeit einnimmt (Suppanz 2003). So schreibt zum Beispiel das ›Re-
ligionsunterrichtsgesetz‹ von 196214 in § 2b vor, dass in allen Klassenzimmern
öffentlicher Schulen vom Schulerhalter ein Kreuz angebracht werden muss, wenn
die Mehrheit der Schülerinnen und Schüler einer christlichen Religion angehört
(Potz/Schinkele 2005: 121). Änderungen dieses Zustands müssen zudem vom
›Heiligen Stuhl‹ akzeptiert werden (Kalb et al. 2003: 372 f und 457).
Die beschriebene Konstellation der Anerkennungsregulation von religiö-
sen Gruppen sowie die damit einhergehenden Rechte sind also zentrale Erklä-
rungsfaktoren für die Beobachtung, dass das Thema ›Kopftuch‹ bisher wenig
konfliktträchtig war und Österreich als Staat mit ›toleranter‹ Kopftuchpolitik
zu kategorisieren ist. Die Anerkennung des Islams als ›Körperschaft öffent-
lichen Rechts‹ verleiht der IGGiÖ eine starke Verhandlungsmacht in religiö-
sen Belangen. Gerade die ›Kopftuchfrage‹ zeigt, dass sie diese auch immer
wieder nutzt und dabei auf die Unterstützung politischer Eliten zählen kann.
Zudem gilt, was der Historiker Werner Suppanz ausgedrückt hat, dass in
Österreich das Verhältnis von Staat und Religion in der politischen Debatte
tabuisiert wird und der Religion, insbesondere der katholischen Kirche, eine
konstitutive Funktion in der symbolischen Imagination von ›Gemeinschaft‹
zukommt (Suppanz 2003: 43). Letzteres wird auch in den öffentlichen Debat-
ten deutlich, indem an zentraler Stelle stets auf die Stellung von Religion in
Österreich hingewiesen wird.15 Gleichzeitig zeigt die ›Kopftuchdebatte‹ in
Österreich jedoch, dass mit Ausnahme der IGGiÖ kaum andere muslimische
Akteure und Akteurinnen eine aktive oder sichtbare Rolle in der Öffent-
lichkeit eingenommen haben.
14 BGBl (A) 243/1962.
15 Mit der wesentlichen Bedeutung der ›pluralistischen‹ und ›korporativen‹ Kir-
che-Staat-Beziehung in Österreich ist auch eine dominante Interpretation des
Kopftuchs durch politische Eliten als religiöses und damit unproblematisches
Symbol verbunden. Demnach wird das Kopftuch dort, wo es verteidigt wird,
häufig religiös gedeutet, bei einer Problematisierung hingegen treten Deutungen
des Kopftuchs als kulturell different, frauenunterdrückend oder politisch in den
Vordergrund (Hadj-Abdou 2008).
Der Stoff, aus dem Konflikte sind
Debatten um das Kopftuch in Deutschland, Österreich und der Schweiz
- Titel
- Der Stoff, aus dem Konflikte sind
- Untertitel
- Debatten um das Kopftuch in Deutschland, Österreich und der Schweiz
- Autoren
- Sabine Berghahn
- Petra Rostock
- Verlag
- transcript Verlag
- Datum
- 2009
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-89942-959-6
- Abmessungen
- 14.7 x 22.4 cm
- Seiten
- 526
- Schlagwörter
- Religion, Migration, Geschlechterverhältnisse, Demokratie, Rechtssystem, Politik, Recht, Islam, Islamwissenschaft, Gender Studies, Soziologie, Democracy, Politics, Law, Islamic Studies, Sociology
- Kategorie
- Recht und Politik