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JUDITH WYTTENBACH
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»Die Kündigung eines Arbeitsverhältnisses ist missbräuchlich, wenn eine Partei sie
ausspricht, a. wegen einer Eigenschaft, die der anderen Partei Kraft ihrer Persön-
lichkeit zusteht, es sei denn, diese Eigenschaft stehe in einem Zusammenhang mit dem
Arbeitsverhältnis oder beeinträchtige wesentlich die Zusammenarbeit im Betrieb; b.
weil die andere Partei ein verfassungsmässiges Recht ausübt, es sei denn, die
Rechtsausübung verletze eine Pflicht aus dem Arbeitsverhältnis oder beeinträchtige
wesentlich die Zusammenarbeit im Betrieb«.
Ist eine Kündigung missbräuchlich, so kann das Gericht der Arbeitnehmerin
einen Schadensersatz von maximal sechs Monatslöhnen zusprechen. Die Fort-
führung des Arbeitsverhältnisses kann jedoch nicht erstritten werden. Muss
sich die Arbeitgeberschaft schon bei Stellenantritt im Klaren darüber sein,
dass die Arbeitnehmerin ein Kopftuch tragen wird, würde eine Kündigung
überdies gegen den Grundsatz von Treu und Glauben (Art. 2 Abs. 1 ZGB)
verstoßen.
Erfolgt eine Kündigung, weil sich eine Angestellte weigert das Kopftuch
abzulegen, handelt es sich dabei grundsätzlich um einen unzulässigen Grund
(Persönlichkeitseigenschaft sowie Ausübung verfassungsmäßiger Rechte).
Gerechtfertigt ist sie nur dann, wenn das Tragen des Kopftuchs Probleme in
direktem und konkretem Zusammenhang mit dem Arbeitsverhältnis schafft bzw.
eine Pflicht aus dem Arbeitsverhältnis verletzt oder die Zusammenarbeit bei der
Arbeit gestört wird. Dieser klare und sachliche Grund muss nachgewiesen wer-
den können. Bei beweisbaren Umsatzeinbußen, Kundenabwanderungen, Sicher-
heits- und Hygieneproblemen ist eine Kündigung zulässig, wenn die Kausalität
belegt werden kann und weniger einschneidende Maßnahmen nicht möglich
sind (Gloor 2006: 12). Auf Grund der Fürsorgepflicht muss die Arbeitge-
berschaft zumutbare Maßnahmen ergreifen, um die Probleme zu beheben; die
Kündigung bleibt insofern ultima ratio (Portmann/Stöckli 2007: 195). Diese
Praxis ist unbefriedigend, da die betroffene Frau, die ein zentrales Grundrecht
auszuüben wünscht, die Konsequenzen aus den negativen Reaktionen der
Kundschaft alleine zu tragen hat (Rückversetzung in eine Stelle mit weniger
Kundenkontakt, allenfalls Stellenverlust), obwohl das Kopftuch objektiv ge-
sehen in den allermeisten Fällen keinerlei Auswirkung auf die Qualität der
geleisteten Arbeit hat und Kundenreaktionen einzig durch negative (rassis-
tische) Assoziationen verursacht werden.
Beispielsweise hat 1990 das Bezirksgericht Arbon die Kündigung einer
türkischen Fabrikangestellten als missbräuchlich qualifiziert.48 Die Angestell-
te hatte bereits seit acht Jahren im betreffenden Betrieb als Montagearbeiterin
gearbeitet, als sie ab 1989 begann ein Kopftuch zu tragen. Gekündigt wurde
48 Bezirksgericht Arbon v. 17.12.1990, Urteil zitiert und besprochen in Schweize-
rische Juristen-Zeitung (SJZ) 87 (1991), 176 ff; Jahrbuch des Schweizerischen
Arbeitsrechts (JAR) 1991, 254ff.
Der Stoff, aus dem Konflikte sind
Debatten um das Kopftuch in Deutschland, Österreich und der Schweiz
- Titel
- Der Stoff, aus dem Konflikte sind
- Untertitel
- Debatten um das Kopftuch in Deutschland, Österreich und der Schweiz
- Autoren
- Sabine Berghahn
- Petra Rostock
- Verlag
- transcript Verlag
- Datum
- 2009
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-89942-959-6
- Abmessungen
- 14.7 x 22.4 cm
- Seiten
- 526
- Schlagwörter
- Religion, Migration, Geschlechterverhältnisse, Demokratie, Rechtssystem, Politik, Recht, Islam, Islamwissenschaft, Gender Studies, Soziologie, Democracy, Politics, Law, Islamic Studies, Sociology
- Kategorie
- Recht und Politik