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STEPHIE FEHR
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Identität, der Vorstellung von Integration, von erwünschter Immigration und
möglicher Reaktion.
Vor britischen Gerichten dominiert eine pragmatische Strategie, jeden Fall
alleinig auf Grund von Fakten und praxisnahen Kriterien zu entscheiden, ohne
die jeweilige religiöse Manifestation bewerten zu wollen. Letzteres ist ins-
besondere in Bezug auf islamische Praxis ohnehin geboten, da es im Islam
keine einheitliche anerkannte Autorität gibt, die solche Glaubensfragen un-
angefochten entscheiden könnte, und jeder/jede Gläubige eigenverantwortlich
eigene Entscheidungen über seine Ausübung des Glaubens treffen muss. In
starkem Kontrast hierzu stehen diejenigen deutschen Schulgesetze, die offen
eine Präferenz für christliche und/oder abendländische Symbole aussprechen,
auch wenn Gerichte der Bundesländer darüber mittlerweile so entschieden
haben, dass diese Absicht der Gesetzgebung nicht verfassungskonform sei
und daher die Klauseln uminterpretiert werden müssten in einem restriktiven
Sinne, d.h. zu Lasten aller religiösen Manifestationen (siehe auch Berghahn in
diesem Band). Festzuhalten ist, dass in den gesetzgeberischen Formulierun-
gen einiger deutscher Bundesländer zumindest intentional eine diskriminie-
rende Bewertung enthalten ist. Diese besagt, dass nur die christlich-okzi-
dentalen Symbole und Kleidungsstücke aus rechtlicher Sicht erwünschte In-
halte oder Bedeutungen verkörpern. Im Gegenschluss signalisiert dies, dass
Religionen orientalischen Ursprungs rechtlich beanstandenswert oder zu-
mindest nicht gleichermaßen schutzwürdig sind. Die betreffenden Vorschrif-
ten spiegeln die in den ›Ludin-Urteilen‹ vorgetragenen Argumente wider, die
eine emotionale, unsachliche Betrachtung des Kopftuchs zum Ausdruck brin-
gen. Zwei Lehrmeinungen könnten als Antwort auf eine Rechtsetzung, die auf
persönlicher Präferenz beruht, vorgebracht werden. Streitbar und polemisch
betont Stewart Motha, dass die rechtlichen Phänomene, die religiöse Kleidung
verbieten, eine suizidale Tendenz der Demokratie verkörpern, die ihr not-
wendig innewohnende Rechte einschränkt, nur weil ihr deren Ausübung
durch eine Minderheit nicht genehm ist (Motha 2007: 156). Wesentlich all-
gemeiner und vorsichtiger wird angeführt, dass Diskriminierung moralisch
unannehmbar ist, sobald sie in der Form erscheint, andere weniger vorteilhaft
zu behandeln auf Grund einer Erwägung, die moralisch irrelevant ist (bei-
spielsweise Feldman 2002: 135).
In Anbetracht der Tatsache, dass einige der Landesschulgesetze diskrimi-
nierende Vorschriften enthalten, die weder mit dem GG, noch mit der EMRK
oder europarechtlichen Anforderungen vereinbar sind, könnte der rechtsver-
gleichende Blick auf andere Rechtsordnungen und deren Lösungswege durch-
aus Alternativen hervorbringen. Das britische Modell dürfte auf Grund der es
kennzeichnenden Unvoreingenommenheit und seines Pragmatismus auch für
deutsche Verhältnisse angemessen sein und wäre zudem weitaus kompatibler
Der Stoff, aus dem Konflikte sind
Debatten um das Kopftuch in Deutschland, Österreich und der Schweiz
- Titel
- Der Stoff, aus dem Konflikte sind
- Untertitel
- Debatten um das Kopftuch in Deutschland, Österreich und der Schweiz
- Autoren
- Sabine Berghahn
- Petra Rostock
- Verlag
- transcript Verlag
- Datum
- 2009
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-89942-959-6
- Abmessungen
- 14.7 x 22.4 cm
- Seiten
- 526
- Schlagwörter
- Religion, Migration, Geschlechterverhältnisse, Demokratie, Rechtssystem, Politik, Recht, Islam, Islamwissenschaft, Gender Studies, Soziologie, Democracy, Politics, Law, Islamic Studies, Sociology
- Kategorie
- Recht und Politik