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DAS ISLAMISCHE KOPFTUCH, ›BAYERN MÜNCHEN‹ UND DIE GERECHTIGKEIT
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würde die negative und positive Religionsfreiheit der Schüler und ihrer Eltern
verletzen.3
Vor den Fachgerichten – vom Oberverwaltungsgericht (OVG) Stuttgart
bis hinauf zum Bundesverwaltungsgericht (BVerwG) – bekam das Land ge-
gen die Beschwerdeführerin Ludin recht. Tenor der Urteile: Das Kopftuch sei
ein auffälliges Symbol, das Schüler auch dann religiös verunsichern könnte,
wenn es nicht in missionarischer Absicht getragen werde. Kein Gericht hat
Frau Ludin eine solche Absicht unterstellt. Jedes hat sich auf die ›objektive
Wirkung‹ des Kopftuchs berufen. Ein für religiöse und auch politische Ausle-
gungen offenes Kleidungsstück, getragen von einer Autoritätsperson, der
Schüler nicht ausweichen können, sei nach aller Lebenserfahrung geeignet,
Konflikte in die Klassenzimmer und in das Verhältnis zwischen Lehrerin und
Eltern zu tragen.
Frau Ludin wandte sich daraufhin an das Bundesverfassungsgericht
(BVerfG). Dessen zweiter Senat befand mit fünf gegen drei Stimmen, das
Land Baden-Württemberg dürfe Frau Ludin nicht ohne gesetzliche Grundlage
vom Schuldienst ausschließen.4 Eine solche Grundlage bestand zum Zeitpunkt
des höchstrichterlichen Urteils nicht. Daher hätte nur eine konkrete Gefahr,
etwa für den Schulfrieden, einen Ausschluss der Bewerberin durch das Ober-
schulamt rechtfertigen können. Die ›objektive Wirkung‹ des Kopftuchs hin-
gegen stelle eine nur abstrakte Gefahr dar. Sie rechtfertige keinen Ausschluss,
der nicht explizit gesetzlich vorgesehen sei. Schließlich sei mit der Glaubens-
freiheit der Bewerberin ein vorbehaltlos gewährleistetes Grundrecht berührt.
Das Gericht gab damit auch dem Argument der Klägerin recht, seine eigene
frühere ›Kruzifix-Entscheidung‹5 sei auf ihren Fall nicht anwendbar: Während
damals eine staatliche Einrichtung verfügt habe, religiöse Symbole anzu-
bringen, bringe jetzt eine Grundrechtsträgerin ihre persönliche religiöse Über-
zeugung zum Ausdruck.
Das BVerfG stützte sein Urteil auf den Grundsatz der ›offenen Neutra-
lität‹: Die Bundesrepublik, heißt das, ist ein säkularer, aber kein laizistischer
Staat. Sie respektiert die Glaubensfreiheit nicht nur, sie fördert sie auch. Der
Staat darf sich nicht mit einer Glaubensgemeinschaft oder religiösen Über-
zeugung gemein machen, aber er muss religiösem Leben Raum geben, auch
wenn es öffentlich in Erscheinung treten will. Das BVerfG urteilte darum,
dass Bekleidungsvorschriften im öffentlichen Dienst, die religiöse Ausdrucks-
3 Die ›negative‹ Religionsfreiheit ist die Freiheit von staatlicher Einmischung und
Zwang in Religionsfragen; die ›positive‹ Religionsfreiheit ist die Freiheit zur
Lebensführung in Einklang mit religiösen Überzeugungen. In ›Kopftuchfällen‹
betrifft das vor allem die Freiheit der Eltern, ihre Kinder religiös zu erziehen.
4 BVerfG v. 24.09.2003, Az. 2 BvR 1436/021, BVerfGE 108, 282 ff.
5 BVerfG v. 16.05.1995, Az. 1 BvR 1087/91,BVerfGE 93, 1, 23.
Der Stoff, aus dem Konflikte sind
Debatten um das Kopftuch in Deutschland, Österreich und der Schweiz
- Titel
- Der Stoff, aus dem Konflikte sind
- Untertitel
- Debatten um das Kopftuch in Deutschland, Österreich und der Schweiz
- Autoren
- Sabine Berghahn
- Petra Rostock
- Verlag
- transcript Verlag
- Datum
- 2009
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-89942-959-6
- Abmessungen
- 14.7 x 22.4 cm
- Seiten
- 526
- Schlagwörter
- Religion, Migration, Geschlechterverhältnisse, Demokratie, Rechtssystem, Politik, Recht, Islam, Islamwissenschaft, Gender Studies, Soziologie, Democracy, Politics, Law, Islamic Studies, Sociology
- Kategorie
- Recht und Politik