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Duldung, wobei auch iwch ein gut Theil Fatalismus i» Anschlag kommt. „Gott ist mehr
werth als hnndert Pfaffen," lantet ein altes Sprichwort. Im Großen und in seiner ganzen
Masse können wir den magyarischen Volkscharakter iu seinem Gemeindeleben studiren, bei
der ernsten und klugen Beschäftigung mit öffentlichen Angelegenheiten. Überall gibt es
einen „Weisen des Dorfes", auf dessen Rath das niedere Volk Hort, und einen „Mund
des Dorfes", der im Namen des Volkes spricht. Bei den Rechenschaftsberichten von
Abgeordneten, bei den Programinreden der Wahlen bekundet die Volksmenge in der Regel
eine beobachtende Ruhe. Das magyarische Volk kriecht nicht, duckt nicht, aber es gibt
Jedem seiue Ehre, besonders den Stndirten; es hört auf das Wort von Geistlichen,
Obrigkeiten, beliebten Herren.
Wie in seiner Gesammtheit, ist der Magyare auch als Einzelner derart beschaffen.
Bei all seinem Ernst besitzt sein Gemüth auch viel Humor: wir werden denselben in den
Anekdoten des magyarischen Volkes vorführen. Dem Possenreißer jedoch ist er abhold, der
Hanswnrst geht ihm wider den Strich, seinem Antlitz paßt die Grimasse nicht.
Ein eigenthümlicher Charakterzug der magyarischen Race ist bei alledem die Neignng
zum Witz nnd Schabernack, welche bis in die mittleren Classen hinaufdringt. Einander
mit treffenden Sticheleien zu kitzeln, einander zum Gegenstand des allgemeinen Gelächters
zn machen, Abenteuer karikirt vorzutragen, Spottnamen zn geben und zurückzugeben — ist
eine gewohnte Würze jeder geselligen Zusammenkunft. Und darüber böse zu werden, würde
die schlimmste Gemüthsart beweisen. Das Beleidigtsein, Sichverwahren, Schiefnehmeu
schlägt die Gesellschaft auseinander, vereinzelt den Grollenden. Dieser Hang zum Witze-
macheu ist am meisten beim Szekler entwickelt, dann in der Gegend von Kecskemet und
Körös; am wenigsten heimisch ist er in Debreezin, dort nimmt man Alles ernst, wie dies
Franz Kazinezys „arkadischer" Proceß beweist.*
Auch ganze Gegenden machen einander gern znm Gegenstand des Spottes. An dein
einen Orte hat man „das Erdzeislein im Fluge geschossen", am anderen „die Leiter
überquer durch den Wald getragen", noch anderwärts „die Weintrauben in der Kohlen-
glut gebraten", bald wieder „die Taschenuhr für eiueu Tik-Tak-Teufel gehalten und
todtgeschlagen", oder „auf dem Gewehr Flöte geblasen", oder „den Stier auf dem
Thurm weiden lassen", oder „die Buchweizensaat durchschwömmen, weil man sie für
das Meer hielt." Über dergleichen sind ganze Gedichte verfaßt.
Die melancholische Färbung aber finden wir vor Allem im großen Stil uud als
Grundlage bei der Vaterlandsliebe, welche sich bis zn einer, der Melancholie verwandten
* Kazinczy hatte den Tebreczinern folgende Inschrift für Csokonais Grabstein empfohlen: „Auch ich habe in Arkadien
gelebt." Und da die Geographie von Arkadien auch berichtet, es sei ein Land mit sehr starker Viehzucht, so entstand daraus
unversöhnlicher Groll, ja ein literarischer Proceß (der „arkadische Proceß").
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Die österreichisch-ungarische Monarchie in Wort und Bild
Übersichtsband, Ungarn (1), Band 5
- Titel
- Die österreichisch-ungarische Monarchie in Wort und Bild
- Untertitel
- Übersichtsband, Ungarn (1)
- Band
- 5
- Herausgeber
- Erzherzog Rudolf
- Verlag
- k.k. Hof- und Staatsdruckerei, Alfred von Hölder
- Ort
- Wien
- Datum
- 1888
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- PD
- Abmessungen
- 16.41 x 22.5 cm
- Seiten
- 532
- Schlagwörter
- Enzyklopädie, Kronländer, Österreich-Ungarn
- Kategorien
- Kronprinzenwerk deutsch