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Und dann die Unmasse von Mitbürgern, auf gut magyarisch „Herren Gesippen"
(alyall uram), die weder zwischen den vier Pfählen der Lesevereine, noch unter dem
Schirmdach der Trockenmühlen sich zu „witzigen" wünschen, das Volk der halben Stadt,
wie es auf den Tanyas draußen verstreut wohnt! Auch ihnen hat der Genius des gesell-
schaftlichen Lebens einen Lichtstrahl zugewendet. Ihnen ist der Platz vor dem Stadthause
vorbehalten, wo alle jene Momente des öffentlichen Lebens sich abspielen, die über die
engen Grenzen der Lesevereine und Trockenmühlen hinausquellen. Wenn der sonntägliche
Gottesdienst zu Ende ist, hebt die „zweite Predigt" an, die der Gemeinderichter und in
den Städten irgend ein Notar hält und die von den Herren Bauern mit größerer
Aufmerksamkeit angehört und auch weit besser verstanden wird, als die soeben vernommenen
strengen Mahnworte des Hochwürdigen. Aus den tausend schwarzen Suba-K'ragen lauschen
tausend braune Köpfe und heften ihre Augen auf deu Verkünder, dessen Worte tief in die
Gedächtnisse eindringen; zürnendes oder fröhliches Gemurmel gibt die Meinung über das
Gehörte kund, besonders über den letzten Punkt, der in der Regel an eine gewisse Bürger-
pflicht zu mahnen pflegt, deren Nichterfüllung den Besuch des „Gerichtsvollziehers" oder —
wie man ihn an manchen Orten wohl nennt — des „Bemüssigers" in Aussicht stellt.
Dann steigt der Notär von der amtlichen Tribüne (in größeren Ortschaften vom
Balkon des Stadthauses) herab und das „vielköpfige Ungeheuer" steckt die Pfeife» au,
löst sich in Gruppen auf, beräth sich, tauscht Nachrichten und Gedanken aus, bis das
Mittagsläuten und die schuldige Rücksicht auf die „Frau" es heimcommaudireu.
Dieser Stadthausplatz ist die politische und gesellschaftliche Schule des ungarischen
Volkes. Wie einst der Bürger Athens, so hat Jeder, der hier erscheint (und wer erschiene
am Sonntag nicht?), „nichts Anderes zu thun, als nur Neuigkeiten zu erzähle» und
anzuhören."
Die Parteikämpfe, wenn es welche gibt, gehen ebenda vor sich; in bewegten Zeiten
erscheinen da die Redner, die Volksführer, um einander das Wort auf die Zunge zu legen
oder in die Kehle hinabzuwürgen; die Reichstagscandidaten gehe» hin, um anzufeuern,
zu drohen, zu versprechen, um ihre ersten Lorbeeren in donnernden ^ljens zu ernten, oder,
wenn es ihrer Stimme an Reiz, ihrem Auftreten an Tact, ihrer Rede an Überzeugung
fehlt, ihre Züchtigung zu empfange» von jener unbarmherzigen Geißel, als welche das
Gelächter dieser Suba-tragenden Bauern auf ihr Haupt niedersaust, denn zu beurtheile«
wissen sie das Alles gar wohl.
Vor dem Stadt- oder Gemeiudehause (und auch anderwärts auf den öffentlichen
Plätzen) stehen lange Bänke zur Bequemlichkeit des Publicums. Diese Bänke („Sessel für
Barttrockner, für Spötter") sind an Wochentagen mit Gemeindebeamten und bejahrteren
Honoratioren besetzt. Auch dies ist wieder eine Art Club, eine Art Trockenmühle, wo die
Die österreichisch-ungarische Monarchie in Wort und Bild
Ungarn (2), Band 9
- Titel
- Die österreichisch-ungarische Monarchie in Wort und Bild
- Untertitel
- Ungarn (2)
- Band
- 9
- Herausgeber
- Erzherzog Rudolf
- Verlag
- k.k. Hof- und Staatsdruckerei, Alfred von Hölder
- Ort
- Wien
- Datum
- 1891
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- PD
- Abmessungen
- 15.56 x 21.98 cm
- Seiten
- 682
- Schlagwörter
- Enzyklopädie, Kronländer, Österreich-Ungarn
- Kategorien
- Kronprinzenwerk deutsch