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Kretinismus, sowohl in Tirol wie in Vorarlberg in nachweisbar zunehmender Häufigkeit
auftreten. Ererbte Anlage, Mißbrauch geistiger Getränke und Gemüthsbewegungen
mannigfacher Art werden als die hervorragendsten Ursachen dieser betrübenden Erscheinung
angesehen.
Eine Frage von allergrößter Tragweite, nämlich die nach dem Einfluß der Lebens-
verhältnisse ans die physische Beschaffenheit der Landesbewohner, kann nur ganz kurz
gestreist werden. Nichts ist gewiß geeigneter den Körper zu stählen und gegen Erkrankung
widerstandsfähig zu machen, als die frühzeitige Gewöhnung an harte Arbeit in freier,
frischer Gebirgsluft, verbunden mit ausreichender, kräftiger Nahrung. Unter solchen Ver-
hältnissen befindet sich in der That ein großer Theil der bäuerlichen Bevölkerung des
Landes und ihnen verdankt sie vorzugsweise die Erhaltung ihrer körperlichen Rüstigkeit.
Leider aber sind die wirthschaftlichen Verhältnisse und die Beschaffenheit des Bodens
nicht allenthalben derart, daß das Land seine Bewohner ausreichend zn ernähren
vermöchte. In vielen Familien herrscht jahraus, jahrein Mangel und Noth; ganze
Ortschaften und Thalstriche befinden sich in drückendster Armuth, deren Gipfelpunkt in
einzelnen Gegenden Wälschtirols durch das sporadische Vorkommen der Pellagra bezeichnet
wird, welche man mit Recht die Krankheit der Ärmsten, Uul äells. miseiia, nennt.
Jnsoserne nicht ein Erwerb in der Fremde oder eine angemessene industrielle Bethätigung
Abhilfe zu schaffen vermag, hat die Verarmung der Bevölkerung und der mit dieser
gewöhnlich gleichen Schritt haltende Mißbrauch geistiger Getränke eine sichtlich zunehmende
Verschlechterung der körperlichen Beschaffenheit im Gefolge.
Es liegen aber auch Anhaltspunkte vor, welche unzweideutig darauf hinweisen, daß
die industrielle Beschäftigung, sei es in Form der Hausindustrie, sei es in Form der
Fabriksarbeit (Textilindustrie), in jenen Theilen des Landes, in welchen sie zu intensiver
Entwicklung gelangt ist, einen ungünstigen Einfluß auf die Körperbeschaffenheit der
betreffenden Personen geübt hat. Ganz auffallend tritt dies in Vorarlberg hervor.
Erfahrene Ärzte des Landes bezeugen, daß der Gesundheitszustand und die körperliche
Rüstigkeit bei den Fabriksarbeitern entschieden ungünstiger ist als bei der bäuerlichen
Bevölkerung. Bleichsucht und Blutarmuth junger Mädchen kennt man in Vorarlberg erst
seit der Einführung der Stickmaschinen. Skrophulose und Lungenschwindsucht mehren sich
mit der Ausbildung des Fabrikswesens und mit der dnrch dieses bedingten Veränderung
der Lebensweise und Ernährung der Bewohnerschaft. Trotz der hoch anerkennenswertheu,
ja geradezu mustergiltigen Bemühungen, welche ein Theil der Fabriksherren Vorarlbergs
für das körperliche Wohl der Arbeiter verwendet, erhalten sich die letzteren nur dort in
sichtlichem Wohlbefinden, wo ihnen die Möglichkeit geboten ist, sich neben der Fabriks-
arbeit auch mit der Landwirthschaft zu beschäftigen.
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Buch Die österreichisch-ungarische Monarchie in Wort und Bild - Tirol und Vorarlberg, Band 13"
Die österreichisch-ungarische Monarchie in Wort und Bild
Tirol und Vorarlberg, Band 13
- Titel
- Die österreichisch-ungarische Monarchie in Wort und Bild
- Untertitel
- Tirol und Vorarlberg
- Band
- 13
- Herausgeber
- Erzherzog Rudolf
- Verlag
- k.k. Hof- und Staatsdruckerei, Alfred von Hölder
- Ort
- Wien
- Datum
- 1893
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- PD
- Abmessungen
- 16.12 x 23.1 cm
- Seiten
- 624
- Schlagwörter
- Enzyklopädie, Kronländer, Österreich-Ungarn
- Kategorien
- Kronprinzenwerk deutsch