Seite - 467 - in Die österreichisch-ungarische Monarchie in Wort und Bild - Böhmen (1), Band 14
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Kindlein war vor seinem zweiten Jahr", das die Seelenleiden des verwaisten Kindes unter
dem Walten einer gefühllosen Stiefmutter schildert, oder es liegt ihnen irgend ein
Ereigniß zu Grunde, das ungewöhnliches Aussehen gemacht hat, wie Hinrichtung einer
Kindesmörderin oder der arme Vaclavi'cek, der im Wahnsinn der Liebe drei Morde begangen
hat. Es finden sich darunter Stücke, deren Stoff, wie man bei gewissen Märchen nachweisen
kann und die aus dem gleiche» Grunde aus unbekannten Zeiten herrühren, weil sie bei
den verschiedensten Völkern erscheinen. So sind das in einen Ahorn verzauberte Mädchen,
der von zwei Feen entführte schöne Schäfer, die Teufelsbraut ä Iu Leuore, schwerlich aus
böhmischem Boden entsprossen. Die Geschichte von den drei Rittern, deren einer in dem
Wirthstöchterlein seine als Kind geraubte Schwester wiederfindet, spielt böhmisch „nicht
weit von Kolin", was das deutsche Köln seiu kann, wie ja ein ähnlicher Vorwurf Gemeingut
aller Völker ist, uuter denen Zigeuner auftauchten und forthuschten; im Böhmischen
behandeln zwei Volkslieder mit verschiedener Ausmalung denselben Stoff.
Es war bei uns eine Zeit, wo im Kunstlied das Träumerische, das Sentimentale,
Wehmüthige iu der Mode war und wo man auch im Volkslied nur diese Seite heraus-
zufinden glaubte. Ein Nachklang dieser Periode ist es, wenn Jan Ziern da in einem zur
Zeit der böhmischen Jubiläumsausstellung 1891 erschienenen Aufsatz die Behauptung
aufstellt, im böhmischen Volksliede walte das elegische Element, die Schwermuth und
Sehnsucht vor, und dies auf die gedrückte Lage zurückführt, iu der sich das böhmische
Volk seit dem Verluste seiner politischen Selbständigkeit befunden habe. Das möchte
denn doch wohl bestritten werden. Für das epische Lied bringt es die Natur des
Stoffes mit sich, der in einem ernsten getragenen Ton behandelt sein will, ohne daß man
dabei nach einer politischen Erklärung zu greifen braucht. Dem lyrischen Volkslied des
Böhmen jedoch ist, im geraden Gegensatz zu anderen Slavenstämmen, zum Beispiel dem
kleinrussischen mit seinen ckumx, große Vielseitigkeit und Lebendigkeit nachzurühmen,
eine Scala der Empfindungen, die vom melancholisch Traurigen an dem einen, bis znm
Lustigen, ja Ausgelassenen an dem anderen Ende läuft. Wenn unter den Liebesliedern, und
diese nehmen ja wie bei allen Völkern den breitesten Raum ein, die ungestillte Sehnsucht,
die unerwiderte Neigung, die Trauer über verlorenes Glück eine so große Rolle spielen,
so ist das wohl etwas sehr Begreifliches und überall, selbst in der Kunstpoesie Vor-
kommendes. Daraus erklären sich auch die vielen Lieder, die mit „Ach" anheben, auf die
sich Neruda als Beweise für seine Ansicht beruft. „Ach", seufzt die Verlassene, „für dich wäre
ich ins Wasser gesprungen! Schade, hundertmal schade um deine schwarzen Augen!" Der
Bursche kommt nicht mehr zu ihr, der Weg ist ihm zu weit, der Weg ist ihm verwachsen
mit Klee, mit Schilf, mit Dorngesträuch. Das berühmteste unter den „Ach"-Liedern ist wohl
das: „Ach das ist es nicht, ist es nicht, was mich erfreuen könnt'"; die Eltern geben ihr,
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Die österreichisch-ungarische Monarchie in Wort und Bild
Böhmen (1), Band 14
- Titel
- Die österreichisch-ungarische Monarchie in Wort und Bild
- Untertitel
- Böhmen (1)
- Band
- 14
- Herausgeber
- Erzherzog Rudolf
- Verlag
- k.k. Hof- und Staatsdruckerei, Alfred von Hölder
- Ort
- Wien
- Datum
- 1894
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- PD
- Abmessungen
- 15.78 x 21.93 cm
- Seiten
- 634
- Schlagwörter
- Enzyklopädie, Kronländer, Österreich-Ungarn
- Kategorien
- Kronprinzenwerk deutsch