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des geistigen Lebens nicht vollständig zum Stillschweigen gebracht war. Und andere
Erscheinungen sprechen noch lebhafter dafür, daß selbst in der Zeit, in der die traurige
Erbschaft des großen Krieges auf Böhmen lastete, in der die Wissenschaft dem Leben und
der Volkssprache fremd gegenüberstand und in der eine künstliche Absperrung den
befruchtenden Wechselverkehr der Geister hemmte, die Sehnsucht nach Erhöhung des
Daseins durch Kunst und Poesie im Volksgemüthe nicht erstorben und die geschichtliche
Überlieferung des Landes, an der sich die neuerwachende Dichtnng zuerst emporranken
sollte, dem Gedächtniß nicht entschwunden war. Das Volkslied verstummte in den von
altersher deutschen Gegenden Böhmens anch in den traurigsten Zeiten nicht. In der
Hauptstadt des Landes bildete sich trotz alledem und alledem etwa um die Mitte des
vorigen Jahrhunderts ein Verlagswesen heraus, das mit den ersten ernsteren Versuchen der
deutschen Bühne innig zusammenhing, und iu Prag wirkte schon um jene Zeit eine
Romanschriftstellerin, Marie S a g a r mit Namen, die aus erster oder zweiter Hand die
Anregung zu rührenden Erzählungen empfing und die empfindsamen Seelen mit Tage-
büchern versorgte.
Als unter Joseph der Aufschwung der Geister und die Pflege der Literatur vou
obeuher begünstigt, ja gefordert wurden, fand diese Bewegung in Böhmen ein, wenn nicht
vorbereitetes, so doch empfängliches Geschlecht. Verspätet vollzog sich auf diesem Boden
eine ähnliche Entwicklung der Literatur, wie sie für das große Gebiet deutscher Zunge fast
ein halbes Jahrhundert früher vorangegangen war. Das Selbständigkeitsgefühl, das
„Sich fühlen", in dem die ersten Naturlaute einer volkstümlichen und individuellen
Poesie wurzeln, mußte erst geweckt, der Muth, sich auszusprechen, erst entflammt werden.
Die Theorie ging der Praxis, die planmäßige Anleitung dem Schaffen, philosophische
Kunstbetrachtung den Regungen des poetischen Geistes voran.
Zwanglos ergeben sich dem überschauenden Blick zwei Perioden, in denen die
deutsche Poesie in Böhmen zu neuem blühenden Leben gelangt, die des Pflanzerbemühens
und die des üppigen Wuchses. In der ersteren, die bis in den Beginn unseres Jahrhunderts
hinein währte, gewahrt man die regelrechte Gärtnerarbeit, die Aussaat, die Übersetzung
einiger Zierpflanzen, die Aufwühlung des Bodens, die Abgrenzung der Beete, die plan-
mäßige Anlage der Wege und die sorgliche Umzäunung des ganzen Gebietes; in dieser
Zeit wagen sich die edleren poetischen Keime nur schüchtern aus dem Boden hervor,
während mannigfaches Unkraut für die neuerwachte Triebkraft des Bodens doch schon
Zeugniß ablegt. Dann aber steigt aus der Tiefe eine Lebenskraft empor, welche die
Pflanzer in Staunen setzt und Gestaltungen, die ihren lehrhaften Vorstellungen ferne
lagen, in raschem, dichtem Wachsthum erstehen läßt. In diesen beiden Perioden sehen wir
die Einflüsse, die kraft der geographischen Lage des Landes auf Böhmens deutsche Literatur
Die österreichisch-ungarische Monarchie in Wort und Bild
Böhmen (2), Band 15
- Titel
- Die österreichisch-ungarische Monarchie in Wort und Bild
- Untertitel
- Böhmen (2)
- Band
- 15
- Herausgeber
- Erzherzog Rudolf
- Verlag
- k.k. Hof- und Staatsdruckerei, Alfred von Hölder
- Ort
- Wien
- Datum
- 1896
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- PD
- Abmessungen
- 16.07 x 22.35 cm
- Seiten
- 708
- Schlagwörter
- Enzyklopädie, Kronländer, Österreich-Ungarn
- Kategorien
- Kronprinzenwerk deutsch