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wie der elektrische Strom die seinem Ausgangsorte näheren Theile früher als die weiter
abliegenden durchläuft und das jedem Erregungscentrum unmittelbar Benachbarte sich als
Fortpflanzer und Überträger der Bewegung auf das Entferntere erweist, so kann auch
die Gothik uur über deutsches Gebiet nach Böhmen gedrungen sein.
Seit der Regierung Wenzels I. gewann hier der neue eonstructive Gedanke des
gothischen Systems, welcher mit der eonseqnenten Anwendung des Spitzbogens, sowie des
Rippengewölbes und mit der Entwicklung des ausgebildeten Strebesystems auch Grundriß
und Aufbau umgestalten mußte, immer mehr an Boden. Einige tüchtige Bauten der Über-
gangszeit, denen manch interessanter und beachtenswerter Zug eigen ist, arbeiteten seiner
immer entschiedener zu Tage tretenden Herrschaft fördernd vor, wenn auch ungemein edel
entwickelte Formen feinster romanischer Auffassung sich bis um die Mitte des XIII. Jahr-
hunderts mit Erfolg und Nachdruck bei kunstgeschichtlich besonders wichtigen Objecten zu
behaupten wußten. So steht das P rage r Agneskloster, dessen eigenthümliche Anlage
neben dem Kreuzgang und dem mit der Maria Magdalena-Kapelle verbundenen Eonvent-
saale die getrennt nacheinander entstandenen Laurentius- und Franciscnskirche mit der
Marienkapelle und die Barbarakirche bietet, mit seiner architektonischen Eonstructiou voll-
ständig an der Schwelle des für Böhmen besonders wichtigen gothischen Stils, indeß
das dekorative Beiwerk sich als die schönste Offenbarung der ausgereiften romanischen
Zierformen erweist. Es bleibt von höchster Wichtigkeit, daß dieser Gebäudeeomplex, dessen
Hauptbestaudtheile in der Zeit des Übergangsstils ausgeführt und höchst wahrscheinlich
unter Wenzel I. vollendet wurden, bereits das Vorwalten der gothischen Constructious-
weise bietet und gewissermaßen den Eintritt derselben in die Bauthätigkeit der Landes-
hauptstadt selbst markirt. In ähnlicher Weise wie bei dem Prager Agneskloster behaupteten
in dem Kapitelsaal des Cistercienserstistes Ossegg, der nicht viel früher als die genannte
Präger Anlage vollendet wurde, spätromanische Decorationsgesetze neben gothischen
Construetionsprincipieu ihre Geltung. Letztere wurden zweifellos, wie zum Beispiel die
Auorduuug der Strebepfeiler au der Chorpartie der Cistercieuserkirche zu Hradiste und
einige Details in den Trümmern des von den Husiteu zerstörten Klosters Nepomuk
schließen lassen, in Böhmen durch die Cistercieuser ungemein gefördert, welche die in
Frankreich — der Heimat ihres Ordens — ausgebildeten neuen Stilgesetze zunächst
wesentlich auf das eonstructive Gerüst ihrer Anlagen beschränkten, aber nahezu in allen
Gebieten, in welche ihre Berufung damals erfolgte, für die Verbreitung der Gothik
eintraten. Da die böhmischen Eistercieuseruiederlassuugeu Filiationen fränkischer und
österreichischer Klöster waren und selbst, wie dies in Saar geschah, bei Aussendung einer
nenen Eolonie einen bauverständigen Mönch zur Leitung der Herstellung einer vollkommen
ordensmäßigen Anlage beigaben, so erwarben sich die aus deutscheu Mutterhäusern nach
Die österreichisch-ungarische Monarchie in Wort und Bild
Böhmen (2), Band 15
- Titel
- Die österreichisch-ungarische Monarchie in Wort und Bild
- Untertitel
- Böhmen (2)
- Band
- 15
- Herausgeber
- Erzherzog Rudolf
- Verlag
- k.k. Hof- und Staatsdruckerei, Alfred von Hölder
- Ort
- Wien
- Datum
- 1896
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- PD
- Abmessungen
- 16.07 x 22.35 cm
- Seiten
- 708
- Schlagwörter
- Enzyklopädie, Kronländer, Österreich-Ungarn
- Kategorien
- Kronprinzenwerk deutsch