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der von Dichtern besungenen, von Malern mehrmals dargestellten Umgegend Krakaus. Die
Häuser sind zwar meistens mit Stroh bedeckt, doch geräumig und stattlich, aus starken
Holzbalken gezimmert, sorgfältig getüncht. Um die von Gärten umgebenen Dörfer breiten
sich frische, von der Natnr selbst berieselte Wiesen. Der Boden ist in der Regel kalkig, die
Wege erscheinen auch mitten in den grünen Frühlingssaaten oder goldigen Ährenfeldern
als geradlinige, blendend weiße Streifen, kaum beschattet von dem aschgrauen Laube ein-
samer, meistens abgestutzter Weiden.
Je mehr man sich der Stadt nähert, desto mehr fühlt man sich von der Gegend
angezogen. Dem Thale entlang ziehen sanfte Hügel, von Bnchen, Tannen und Lärchen
bewachsen; aus dunklen Waldnngen schießen junge, leichte und duftige Birken empor.
An gewissen, ziemlich seltenen Tagen erblickt man die zackigen Spitzen der Hohen Tatra.
Schon öfters zeigt die Babiagöra ihre träg aufsteigende Linie. Am Fuße des großen
bis in den Spätsommer beinahe mit Schnee bedeckten Berges quillt die Weichsel hervor,
der Fluß, welcher in Polens Liedern und Sagen dieselbe Rolle spielt, die in Böhmen der
Moldau, in deutschen Ländern dem Rhein und der Donau zu Theil ward.
Unweit der Eisenbahnlinie erhebt sich zuerst die Ruine des alten, hoch gelegenen
Schlosses Tenezyn, durch dessen öde Fenster des Himmels Blau uns wie mit hundert
traurigen Augen anschaut. Der Charakter der Landschaft bleibt weiter derselbe, man bemerkt
jetzt nur öfters weißgraue, einsame Felsstücke. Sie sind von Natur aus zu romantisch, nm
nicht vom Spinnengewebe der Legende umsponnen zu werden. Während einer tatarischen
Invasion sollen fromme Nonnen von einer Schaar Mongolen verfolgt worden sein. Heiße
Bitten und Gebete der Jungfrauen erwirkten ein Wnnder. Die kleine Waldkapelle, in die
sie sich flüchteten, verschwand mit ihnen plötzlich unter die Erde. An ihrer Stelle stehen jetzt
die „Jungfrauen-Felsen". Es gibt Leute, die so glücklich waren, den Gesang der heiligen,
immer noch in der Tiefe weilenden Norbertanerinnen zu vernehmen. So wie hier, so
waltet überall nm Krakau herum Sage und Geschichte. Beide erzählen von langen Kriegen,
von schweren Kämpfen mit europäische» und vornehmlich asiatischen Völkern, von der
Vertheidigung aller christlichen Länder gegen mongolische, mohamedanische Übermacht und
Barbarei. Als sich während des Pontisicates Gregors des XIII. polnische Gesandte nach
Rom begaben, um Heiligenreliquien für neu zu gründende Kirchen zu erbitten, soll ihnen
der Papst gesagt haben: ,;Kehret heim und nehmt eine Handvoll polnischer Erde. Die ist
durchtränkt vom Blute der Vertheidiger Christi."
Wenn man die Denkmäler polnischer Cultur im allgemeinen und speciell Krakaus
Charakter verstehen und würdigen will, muß man sich mit ähnlichen Gedanken der Stadt
nähern. Sie offenbart sich endlich auch dem Reisenden; da sie flach am Flusse liegt, wird
sie in den Morgenstunden von einem silbernen, halb durchsichtigen Nebelschleier umflossen,
Die österreichisch-ungarische Monarchie in Wort und Bild
Galizien, Band 19
- Titel
- Die österreichisch-ungarische Monarchie in Wort und Bild
- Untertitel
- Galizien
- Band
- 19
- Herausgeber
- Erzherzog Rudolf
- Verlag
- k.k. Hof- und Staatsdruckerei, Alfred von Hölder
- Ort
- Wien
- Datum
- 1898
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- PD
- Abmessungen
- 16.48 x 22.34 cm
- Seiten
- 920
- Schlagwörter
- Enzyklopädie, Kronländer, Österreich-Ungarn
- Kategorien
- Kronprinzenwerk deutsch