Seite - 6 - in Die österreichisch-ungarische Monarchie in Wort und Bild - Galizien, Band 19
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Indem wir die Gasse heruntergehen, lesen wir an Thorstürzen und Fenster-
einfassungen lateinische Inschriften ab. Sie zeugen alle von dem echtesten humanistischen
Geiste, von dem glückseligen Optimismus einer naiven, edlxn, hvchstrebenden Zeit. Krakau
hat seine an den Häusern stehenden geschnitzten Heiligenbilder meistens verloren; nur
hie und da leuchtet abends vor der Madonna ein von frommen Händen angezündetes
Lämpchen. Aber die in der gelehrten Humanistensprache verfaßten, in Stein und Marmor
gemeißelten Sentenzen bilden noch immer den Schmuck vieler Privatwohnuugeu und
reden den Wanderer an, wie vor Jahren. ,?uteut umieis et miseris", ,8ibi umico et
posterituti" oder »l'ecum kubitu", ,Operc>sum est cunetis plueere", . V'ii tu> labore
niteseit/, „liebem Iionvru, Oonm eole, libertatem tueure", so lehren uns diese
Inschriften. Zwei andere in der Domherrengasse befindliche lauten: ,?roeul este
prokuni", ,Xi! est in Kamine bona inente melius".
Wir wollen indeß nicht länger bei diesen Aussprüchen verweilen. Treten wir lieber
in die Höfe der von den Domherren bewohnten Häuser ein. Im Allgemeinen begegnen
wir da meist einer, den mittelalterlich winzigen Hof umgebenden Säulenhalle, die uns —
im Kleinen — an die italienischen Paläste der Renaissance erinnert. Durch das stattliche
Thor sieht man öfters in einen Garten, der in der Pracht schöner Sommertage schimmert
nnd glänzt. An den Blättern der Bäume brechen sich die Lichtstrahlen so scharf und kantig,
die Säulen des kleinen Hofes sind in ihrer Form so edel und schlank, unter den Areaden
liegt so prächtiger, kühler Schatten, es herrscht hier solche Frische und Frieden! Man kann
sich ruhig einem halbwachen Traume ergeben, sich gehen lassen, nach Norditalien in
Gedanken pilgern. Um indeß diese Krakauer Sommerstimmung von Grund aus zu
genießen, muß mau eben die verborgenen Winkel kennen, als Stadtkind geboren sein
oder von einem kunstsinnigen Freunde herumgeführt werden. Sonst wird man zwar einige
prächtige Kirchen und verschiedene alte Bauten bewundern, hie und da auch ein
interessantes Detail bemerken, kann aber trotzdem die Stadt verlassen, ohne etwas von
ihrem eigentlichen Reize zu ahnen. Der fremde Tourist wird schwerlich die schönen Partien,
die culturhistorisch wichtigen Theile Krakaus auffinden können. Es ist für ihn bitter wenig
gesorgt. „Die Steine werden schreien", sagt zwar die Schrift, hier reden sie aber nur für
den Eingeweihten, sie reden nur Polnisch. Und was sie zu sagen haben, wäre vielleicht
interessant genug, um auch in andere Sprachen übersetzt zu werden. Dann träte auch die
ganze Bedeutung, die volle Poesie der alten Stadt ins Licht.
Wir wollen Krakau vom Eisenbahnhose aus betreten, nachdem wir zuvor einen
flüchtigen Blick auf die Plantaziouen geworfen haben. Um in die eigentliche Stadt zu
gelangen, muß man die Überreste der früheren Befestigung passiren. Da sehen wir zunächst
ein Stück weißgrauer Wand und vier aus Stein und geschwärztem Ziegelwerk erbaute
Die österreichisch-ungarische Monarchie in Wort und Bild
Galizien, Band 19
- Titel
- Die österreichisch-ungarische Monarchie in Wort und Bild
- Untertitel
- Galizien
- Band
- 19
- Herausgeber
- Erzherzog Rudolf
- Verlag
- k.k. Hof- und Staatsdruckerei, Alfred von Hölder
- Ort
- Wien
- Datum
- 1898
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- PD
- Abmessungen
- 16.48 x 22.34 cm
- Seiten
- 920
- Schlagwörter
- Enzyklopädie, Kronländer, Österreich-Ungarn
- Kategorien
- Kronprinzenwerk deutsch