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welche die Stunden anzeigten. Der gothische Thurm, heute des größten Theiles seiner
Zierden beraubt, mit einer späteren Bedachung abschließend, steht nun vereinsamt und
traurig da, gleichsam Tag und Nacht über die Vergangenheit nachsinnend. Wohl verkündet
er auch den heutigen Geschlechtern, die er nicht mehr versteht, die Stunden; doch irrt er
zuweilen, und wenn er auch seine Pflicht erfüllen will, es geht nicht mehr, denn alles an
ihm ist erstarrt und leblos. Nachts aber, im Glänze des Mondlichtes, das sich über den
ganzen Ringplatz ergießt, nimmt er einen seltsamen Ausdruck, eine ungeheure Würde an.
Er steht da, wie ein Finger Gottes, hochragend, gleichgiltig auf Leben und Treiben der
Mitwelt niederblickend. Er sieht auf das Kirchlein des heiligen Adalbert herab, das, älter
als er, heute barock, ehemals aber ein romanischer Bau gewesen ist, er sieht auf die uralte
Tuchhalle, gleich ihm eine Kronzeugin großer traumhafter Vergangenheit.
Zweimal in der Woche wird in Krakau eine Messe abgehalten, und da über-
schwemmen die Sukmaneu' der die Stadt umgebenden Dörfer den ganzen Ringplatz. Da
ist es laut in der Stadt, alles ist bewegt, alles farbig. Manchmal auch fährt eine
Bauernhochzeit über den Platz, die Braut und ihre Angehörigen sitzen auf Wagen, die
Brantjunker jagen auf ihren Pferden voraus. Viele benachbarte Dörfer gehören zur Pfarre
der Frauenkirche, und die Mädchen, die in Meierhöfen geboren worden, von wo aus man
die Thürme der Pfarrkirche sieht, anerkennen keine andere kirchliche Einsegnung, als jene,
die sich in den Mauern des alten Gotteshauses vollzieht. Am lebhaftesten aber geht es hier
zur Zeit des Frohnleichnamsfestes zu. Im Vergleiche mit den stolzen Processionen in Italien
nnd in Wien ist der kirchliche Umgang in Krakau an diesem Tage freilich bescheiden, provinziell
und ärmlich; um so leuchtender aber wirkt das locale Colorit, um so erbauender die Andacht
und tiefe Sammlung der Theilnehmer. Eine ganze Woche hindurch ist die Stadt voll
flatternder Fahnen, bis endlich in der Oetave des Festes der Ringplatz abermals festlich
umgangen wird. Wenn der letzte Fahnenträger wieder in die Frauenkirche zurückgekehrt
ist, beginnt eine eigenartige Volksbelustigung. Vor Jahrhunderten sollen die Tataren
gerade an dem Tage eines ähnlichen Kirchenfestes in Krakau eingefallen sein. Ein Fischer
aus der Vorstadt hatte damals einen Haufen junger Burschen zusammengelesen und mit
ihnen den Feind verjagt. Ein Nachkömmling jenes Fischers verkleidet sich bis auf den
heutigen Tag iu einen Tataren, besteigt ein hölzernes Pferd und stürmt nach dem Ringplatz
von einer Schaar von Gassenvolk umgeben. Wer ihm nahe kommt, den traktirt er mit
Stockschlägen, er selbst aber streckt die Hand nach dem Gelde aus, das man ihm ans den
Fenstern zuwirft.
Vom Krakauer Ringplatz laufen je einige Gassen nach allen Weltgegenden hinaus.
Die wichtigste unter ihnen führt uns zur Burg, sie wird auch bis auf den heutigen Tag die
' So wird das Oberkleid des galizischen Bauers genannt.
Die österreichisch-ungarische Monarchie in Wort und Bild
Galizien, Band 19
- Titel
- Die österreichisch-ungarische Monarchie in Wort und Bild
- Untertitel
- Galizien
- Band
- 19
- Herausgeber
- Erzherzog Rudolf
- Verlag
- k.k. Hof- und Staatsdruckerei, Alfred von Hölder
- Ort
- Wien
- Datum
- 1898
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- PD
- Abmessungen
- 16.48 x 22.34 cm
- Seiten
- 920
- Schlagwörter
- Enzyklopädie, Kronländer, Österreich-Ungarn
- Kategorien
- Kronprinzenwerk deutsch