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duftende, an dem Nordostabhang des Giewont gelegene Wiese, die den Namen Katatöwka
führt und gerade jetzt von den lustigen Liedern der Heumäher erschallt.
An dem südlichen Abhang des Giewont schreiten wir auf waldigem Pfade vorwärts
und gelangen bald anf die Alm Kondratowa. Die Bäume werden seltener und verschwinden
endlich ganz, so daß wir zuletzt die nur mit Gras bedeckte Böschung hinaufsteigen.
Endlich erreichen wir die Spitze des Czerwony Wierch und betrachten das über jede
Beschreibung erhabene Gebirgspanorama, das sich vor unserem entzückten Auge entfaltet.
Der polnische Dichter, der dieses Bild mit den versteinerten Wogen der Sintflnth
vergleicht, hat Recht. Es ist in der That, als ob die wilden, sturmgepeitschten Riesen-
wellen plötzlich aufgehalten und in Stein umgewandelt worden wären! . . . Die großen
Schneefelder und die langen zackigen Schneerisse lassen das dunkle Colorit und das rauhe
Aussehen dieser Steincolosse noch greller hervortreten. Aber der violette Schimmer, der
Alles mit einem leichten Schleier zu bedecken scheint, mildert die rauhen eckigen Formen
und verleiht dem Ganzen einen wunderbaren Reiz. Die grünen Wälder der tieferen Thäler
und die ruhigen, zahlreichen Seen tragen dazu bei, daß das Panorama keine todte,
abstoßende Steinwüste, sondern ein zwar gewaltiges, aber formenedles Bild darstellt.
Wer wäre im Stande, alle diese Zinken und Nadeln, Kuppeu und Obelisken
aufzuzählen? . . . Kaum vermögen wir die am meisten imponirenden Riesen zu sixiren.
Südöstlich von uns erhebt sich der majestätische Krywän (2496 Meter), der eine ganze Kette
zerrissener Spitzen beginnt. Weiter im Südosten sieht man ein Meer von Obelisken und
Nadeln zusammengedrängt, unter denen die Ryzy (2508 Meter) mit ihrem langen
Schneestreifen und die Königin der Tatra, die gewaltige Gei lsdorf? rfpitze (2663 Meter)
unsere Aufmerksamkeit in Anspruch nehmen, während in dem östlichsten Zweig der mächtigen
Kette die Gruppe der Eisthalerspitze (2629 Meter) und die Lomnitzerspitze (2634) das
Bild der Hauptberge beschließt. Wir sehen deutlich, daß der Hauptzug der Tatra keine gerade
Linie, sondern gewissermaßen ein riesiges, liegendes lateinisches k bildet, auf dessen west-
lichstem Arme wir uns gegenwärtig befinden.
Wir blicken gegen Norden. Zu unseren Füßen bemerken wir einen phantastisch
geformten, zackigen und zerklüfteten Fels, auf dessen Abhängen wir mit Hilfe eines
Fernglases weidende Gemsen bemerken. Das ist das Wahrzeichen von Zakopane, der
schöne Giewont, der so stolz und imposant vom Thale aus aussieht, hier aber bescheiden
zurücktritt, da dessen Spitze zweihundert Meter tiefer liegt als der Gipfel des Czerwony
Wierch, auf dem wir uns gegenwärtig befinden. Weiter nördlich grüßen uns aus der Ferne
das Podhale, die kühnen Pieninen und der sanfte Beskid, hinter welchem sich das Thal
der Weichsel ausbreitet. Durch ein gutes Glas können wir sogar in weiter dämmernder
Ferne die Thürme von Krakau erblicken.
Die österreichisch-ungarische Monarchie in Wort und Bild
Galizien, Band 19
- Titel
- Die österreichisch-ungarische Monarchie in Wort und Bild
- Untertitel
- Galizien
- Band
- 19
- Herausgeber
- Erzherzog Rudolf
- Verlag
- k.k. Hof- und Staatsdruckerei, Alfred von Hölder
- Ort
- Wien
- Datum
- 1898
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- PD
- Abmessungen
- 16.48 x 22.34 cm
- Seiten
- 920
- Schlagwörter
- Enzyklopädie, Kronländer, Österreich-Ungarn
- Kategorien
- Kronprinzenwerk deutsch