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das Capitel aus der Religionslehre für sie hersagte und eine dreistellige Multiplikation
durchführte.
Die Erlösung mußte vou innen kommen nnd nur die Zeit konnte, unter mittelbarer
Einwirkung des erleuchteten Moses Mendelssohn, in das geistige Ghetto der galizischen
Juden Bresche legen. Erst gegen das zweite Viertel dieses Jahrhunderts begannen sich die
Bergspitzen zu röthen nnd der werdende Tag seine ersten Strahlen niederzusenden. Muthige
nnd sich berufen fühlende Männer, die sich für ihre Mission im Stillen vorbereitet hatten,
traten mit dem Lehrbuch in der Hand auf den Plan, den Excommnnicationen der Rabbiner
und dem Halloh der finsteren Menge trotzend. Perls und Rappaport, Erter, Krochmal und
Schorr begannen schrittweise das Werk der Reform nnd die erste, öffentliche, deutsch-
israelitische Volksschule entstand in Tarnopol, später die jüdische Realschule in Brody,
dann wurden, wenn auch in sehr langsamem Tempo, in anderen größeren Städten
konfessionelle Schulen aus jüdifch-communalen Mitteln errichtet. Allein da diese Mittel
sehr spärlich waren, konnte das Eheder nicht verdrängt werden, gegen welches erst in
neuester Zeit die segensreichen Stiftungen des großen Philanthropen, des seinem Volke
zu früh entrissenen Freiherrn Moritz v. Hirsch, den siegreichen Kampf aufnahmen, indem
mit einer Dotation von eilf Millionen Francs, die Baron Hirsch speciell zu diesem
Zwecke widmete, bis jetzt 35 jüdische Volksschulen in Galizien errichtet nnd fünf schon
vorhandene zum Zwecke der Vergrößerung snbventionirt wurden.
Kaum aber begann es zu tagen, kaum begann man die alten Ruinen abzutragen,
als sich die frischen Keime der Bildnngs- und Lernbegierde der Juden zeigten.
Nirgends finden sich so viele Autodidakten als eben unter den polnischen Inden und man
staunt zuweilen, in dem einfachen, unscheinbaren Manne, der noch in seiner langen Kutte
steckt und seine Stirnlocken trägt, ein selbstangeeignetes profundes Wissen zu finden, das
er sich im Hause seiner bigotten Eltern, die jedes profane Studium verdammten,
verstohlen, in späten Nachtstunden mühselig erworben! Natürlich ist es kein systematisches,
schulmüßiges Wissen, das sich diese auf sich selbst angewiesenen jungen Leute aneignen,
die, kaum des Lesens kundig, Schiller zur Hand nehmen, dessen wohlklingendes Pathos sie
anheimelt, oder die philosophischen Schriften Mendelfohns und sogar Kants „Kritik der
reinen Vernunft" studiren. Aber die Söhne dieser Männer dürfen schon die Schule besuchen
und einen regelrechten Unterricht genießen! Das erste Buch, nach dem der Autodidakt greift,
ist ausnahmslos ein deutsches, weil ihm diese Sprache vermöge des jüdisch-deutschen
Idioms zugänglicher ist, überdies das Deutsche ihm Alles, was europäisch ist, Cultur,
Kunst, Fortschritt bedeutet. In den Zeiten des Absolutismus und Centralismus
war ja die deutsche Sprache die Schul-, Staats- und Gesellschaftssprache. Erst die
jüngere Generation beginnt, namentlich in den größeren Städten, sich dem Polenthume
Die österreichisch-ungarische Monarchie in Wort und Bild
Galizien, Band 19
- Titel
- Die österreichisch-ungarische Monarchie in Wort und Bild
- Untertitel
- Galizien
- Band
- 19
- Herausgeber
- Erzherzog Rudolf
- Verlag
- k.k. Hof- und Staatsdruckerei, Alfred von Hölder
- Ort
- Wien
- Datum
- 1898
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- PD
- Abmessungen
- 16.48 x 22.34 cm
- Seiten
- 920
- Schlagwörter
- Enzyklopädie, Kronländer, Österreich-Ungarn
- Kategorien
- Kronprinzenwerk deutsch