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Sie repräseutireu das alte Judenthui» in seiner Ursprünglichkeit, sie sind die Hilter und
Wächter der vom Talmnd ausgeworfenen Verhaue nnd Schutzgräben, die es vor fremder
Berührung uud Beeinflussung bewahren sollen; sie sind die Männer, die heute noch, wie
ihre Vorfahren vor Jahrhunderten, für ihre Glaubenslehre den Scheiterhaufen besteigen
würden. Das Gotteshaus ist ihre ganze Welt und in stiller Klause wühlen sie unermüdlich
in den Katakomben vorzeitlicher Weisheit nach ethischen, metaphysischen und kabalistischeu
Schätzen. Der Wechsel der Zeiten und Verhältnisse vollzieht sich außerhalb ihres Gesichts-
kreises; für die bescheidenen Bedürfnisse der Familie sorgt dann die Frau, mitunter die
Gemeinde oder einzelne fromme Wohlthäter.
Selbstverständlich führt nur ein kleiner Theil der jüdischen Bevölkerung Galiziens
ein beschauliches, dem Talmudstudium uud der Mystik geweihtes Leben. Die meisten
snchen ihren Erwerb im Handel, im Handwerk, in der Bewirthschaftung gepachteter oder
erworbener Felder, in der Ausrodung von Wäldern, als Gastwirthe und Schäuker oder
auch als Faetoreu auf Edelhöfeu, wo sie die Geschäfte ihres Patrons besorgen, seine
Käufe und Verkäufe vermitteln, Darlehen durchführen und eine oft durchs Leben dauernde
Vertrauensstellung einnehmen. Moderne Phönizier, unternahmen die galizifchen Inden
schon in alten Zeiten, bevor noch die Eisenbahnen erfunden, als die Fahrstraßen noch im
kläglichsten Zustande nnd unsicher wareu, weite Reisen in Länder, die man allerdings
jetzt in zwei bis drei Tagen erreicht, wohin man damals jedoch Wochen mühseliger
Fahrten brauchte, um die Rohprodnete der Heimat, Felle, Wolle, Talg, Honig, Wachs,
Roßhaare, Schweinsborsten nnd Ranchwaaren zu verkaufen und westeuropäische Fabrikate
einzuhandeln. Eiue solche Reise war nicht nur schwierig und langwierig, sondern auch
gefahrvoll, erheischte viele Zurüstnngen und einen karawanenweisen Aufbruch der in
eigenen Wagen mit Bedienung reisenden Kaufleute, die zumeist große Summen baren
Geldes mit sich führten. Diese Vorbereitungen pflegten längere Zeit in Anspruch zu
nehmen. Die Hausfrauen sorgten für haltbaren Mundvorrath, da die Männer nicht
überall rituell zubereitete Kost vorfanden, nähten die holländischen Dncaten in den weiten
Leibrock, füllten kleine Fäßchen mit starkem Branntwein und süßem Meth, versahen das
mitznsührende Bettzeug mit srischeu Überzügen nnd ergänzten die freilich sehr primitive
Garderobe, während die Männer sich um eine möglichst zahlreiche Reisegesellschaft nnd
möglichst viele Kauf- und Verkaufsaufträge umsahen. Die Trennung von der Familie
war, angesichts der Gefahren, denen man entgegenging, schwer und thränenreich, und
gewöhnlich hinterließ der Mann seiner Frau einen nach rabbinischen Gesetzen abgefaßten
Scheidebrief, der es ihr gestattete, ohne langes Warten wieder zn heiraten, wenn der
Gatte verschollen bleiben sollte, ohne daß sein Tod coustatirt werden könnte. Vom Segen
der Rabbis begleitet, reisten dann die Kaufleute für Monate in die entlegene Fremde,
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Die österreichisch-ungarische Monarchie in Wort und Bild
Galizien, Band 19
- Titel
- Die österreichisch-ungarische Monarchie in Wort und Bild
- Untertitel
- Galizien
- Band
- 19
- Herausgeber
- Erzherzog Rudolf
- Verlag
- k.k. Hof- und Staatsdruckerei, Alfred von Hölder
- Ort
- Wien
- Datum
- 1898
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- PD
- Abmessungen
- 16.48 x 22.34 cm
- Seiten
- 920
- Schlagwörter
- Enzyklopädie, Kronländer, Österreich-Ungarn
- Kategorien
- Kronprinzenwerk deutsch