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blieben aber, wenn das Geschäft es forderte, wenn Kaufs- oder Verkaufsordres ihnen
nachgeschickt, neue Waarensendungen an sie gemacht oder von ihnen gefordert wurden,
wohl mich jahrelang weg, mittlerweile das Regiment im Geschäfte und in der Familie
ihren Frauen überlassend. Es kam vor, daß während der langen Abwesenheit des Vaters
die Kinder heranwuchsen und denselben kaum mehr kannten; daß er, von westlicher
Cultur gestreift, bei seiner Rückkehr fremd im eigenen Hause war und daß das Leben
hier, dem er entwöhnt geworden, nicht mehr seinen Anforderungen und seinen Anschauungen
entsprach. Im alten Heim nicht mehr heimisch, Pflegte er alsdann gerne ins freiwillige
Exil zu gehen, um höchstens einmal zur Osterzeit oder zur Hochzeit eines Kindes auf
wenige Tage wieder zu kommen.
Der Hauptstapelplatz des galizifchen Handels war die hart an der Reichsgrenze
gegen Rußland gelegene, zum weitaus größeren Theile von Juden bewohnte Stadt
Brody, welche auch in Würdigung ihrer hervorragenden Vermittlerrolle und zur
Förderung des internationalen Verkehres vom Kaiser Josef II. im Jahre 1779 ein
Freihandelsprivilegium erhielt, das nach hundertjährigem Bestände, infolge Drängens der
russischen Regierung und der Anfechtungen seitens der österreichischen Industriellen, welche
sich durch diesen Freihandel verkürzt glaubten, aufgehoben wurde. Die größte Bedeutung
hatte dies Privilegium und die Brodyer Vermittlung zur Zeit der napoleonischen
Continentalsperre, da zu dieser Zeit jene großen Waarenquantitäten, welche sonst den
Seeweg zu nehmen pflegten, über Land gehen mußten. Dieser kolossale Verkehr, der
Brody für viele Jahre eine hervorragende Stellung unter den bedeutenderen Handelsplätzen
und einen großen Wohlstand verlieh, dauerte bis zum Zusammenbruche der napoleonischen
Herrschaft, somit von 1806 bis 1814. Eine ähnlich günstige Periode für diese galizische
Handelsstadt trat zur Zeit des Krimfeldzuges ein, wo sämmtliche russische Häfen von
den alliirten Westmächteu blockirt waren und der Waarenverkehr zwischen Rußland,
Österreich und Deutschland den Landweg über Brody nahm. Der durch die internationalen
Handelsverbindungen bedingte Verkehr mit dem Auslande bewirkte, daß es in der jüdischen
Bevölkerung dieser Stadt, namentlich seit dem Regierungsantritte Kaiser Josefs, allerdings
nur allmälig, zuerst zu dämmern begann.
Trotzdem aber lagern noch tiefe Nebel in den Niederungen der jüdischen Bevölkerung
Galiziens, in denen jeder Fortschritt ein Abweg ist und der Glaube den Aberglauben erzeugt.
Noch immer werden am Bette der Wöchnerin, an den Thüren, Fenstern und am Kamin
ihrer Stube mystische Zettel angebracht, welche böse Geister, Hexen, Zauberer beschwören
und von Mutter und Kind abhalten sollen; noch immer löscht man brennende Kohlen
unter Formeln, um die Wirkungen eines Schreckens oder eines bösen Blickes aufzuheben;
durchmißt man die Friedhöfe mit Fäden, die dann als Dochte zu der Synagoge geweihten
Die österreichisch-ungarische Monarchie in Wort und Bild
Galizien, Band 19
- Titel
- Die österreichisch-ungarische Monarchie in Wort und Bild
- Untertitel
- Galizien
- Band
- 19
- Herausgeber
- Erzherzog Rudolf
- Verlag
- k.k. Hof- und Staatsdruckerei, Alfred von Hölder
- Ort
- Wien
- Datum
- 1898
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- PD
- Abmessungen
- 16.48 x 22.34 cm
- Seiten
- 920
- Schlagwörter
- Enzyklopädie, Kronländer, Österreich-Ungarn
- Kategorien
- Kronprinzenwerk deutsch