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eine Komode untergebracht und der Raum mittels baumwollener Gardinen abgetheilt. Der
Eßtisch steht mitten im Zimmer und ist allen Insassen desselben ebenso gemeinschaftlich
wie der Kochherd und der Backofen. Erhält die Familie einen Zuwachs, so wird an der
Decke ein eiserner Haken befestigt, daran an vier Schnüren ein Korb gehängt, in welchem
der Sprößling einquartiert wird. Ein wahres Vogelnest in minder guter Luft. Um solche,
für Massenquartiere eingerichtete Zimmer läuft gewöhnlich oben eine Gallerie mit hölzerner
Balustrade, darauf abermals, knapp unter der Decke, Schlafstellen, Tische, Sessel und
Wiegen. Eine solche Wohnung, die an die Arche Noahs erinnert, kostet nicht viel;
Beleuchtung und Beheizung sind gemeinschaftlich, wie das Elend ihrer Bewohner.
Blos am Freitag Abend erglänzt eine solche Stube im Lichterglanz. Es ist gescheuert
und geputzt worden; jede Familie hat je zwei Kerzen angezündet; die Suppe dampft,
die würzigen Fische senden ihr scharfes Aroma in alle Winkel; das Fläschchen Branntwein,
der Kelch Meth harren des Segens und nothvergessen und sorgenentlastet für die Daner
von 24 Stunden setzen sich die Familien der gemeinschaftlichen Stube zum heiteren
Mahle, nachdem sie die ganze Woche unter schwerem Entbehren sich kaum satt gegessen.
Dann singt man Sabbathhymnen, erzählt einander, so lange die Helle dauert, wunderbare
Geschichten von Rabbis, welche Kranke geheilt, Krüppel hergestellt, böse Geister bezwungen,
dem Höllenfürsten ein Opfer abgerungen und einen Einblick in die Herrlichkeit Gottes
jenseits der Weltmauern gewonnen haben. Dann erlöschen nach und nach die Lichter, dann
verglimmt der Sabbath selbst und der wochentägige Jammer Peitscht diese armseligen
Existenzen, wie bisher, durch die Irr- und Wirrwege des Lebens! Wie anders und
glänzend sieht der Sabbath im Hause reicher Juden aus! Sämmtliche Zimmer werden
festlich erhellt, der Tisch mit Silbergeschirr gedeckt, der Wein flimmert im Krystallpokal,
die Frauen tragen Seide und Geschmeide, die Männer Atlas und Zobel und hinter diesem
Glänze lauert keine Sorge um den kommenden Tag. Aber sonderbar, dem frommen Juden
ist jeder Neid fremd; er nimmt alles als eine göttliche Vorbestimmung, gegen die sein
Sinn sich nicht auflehnt, und schließlich ist ja nach seiner Lehre das Leben blos ein kurzes
Sterben und nachher sind ja alle gleich!
In der That gibt es im Tode keinen Unterschied dnrch Stand und Reichthum.
Die Ausstattung ist für jeden die gleiche. Keine goldglänzenden Särge, keine Fahnen, keine
Kränze, keine Musik, keine Equipagen und kein Schmaus. Kaum ist der letzte Seufzer
verhaucht, so wird der Todte auf die bloße Diele gelegt, unter ihm einige Strohhalme,
welche nach frommem Glauben den Körper wie spitze Lanzen stechen, denn je mehr er leidet,
desto rascher gelangt die Seele ins Paradies. Zu Häupten der mit einem schwarzen
Gewand bedeckten Leiche brennen drei Kerzen. Einige fromme Juden, die man deshalb
Klausner nennt, weil sie ihr Leben in der Klause zubringen, recitiren Psalmen und
Die österreichisch-ungarische Monarchie in Wort und Bild
Galizien, Band 19
- Titel
- Die österreichisch-ungarische Monarchie in Wort und Bild
- Untertitel
- Galizien
- Band
- 19
- Herausgeber
- Erzherzog Rudolf
- Verlag
- k.k. Hof- und Staatsdruckerei, Alfred von Hölder
- Ort
- Wien
- Datum
- 1898
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- PD
- Abmessungen
- 16.48 x 22.34 cm
- Seiten
- 920
- Schlagwörter
- Enzyklopädie, Kronländer, Österreich-Ungarn
- Kategorien
- Kronprinzenwerk deutsch