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mehr zu einer adeligen Demokratie, die der königlichen Gewalt gegenüber auf ihre
Freiheiten, den übrigen Volksclassen gegenüber auf ihre ausschließlichen Privilegien
pochend, die oberste Gewalt lahmlegte und sie selbst auszuüben nicht politischen Sinn und
Thatkraft genug besaß. Somit waren die Provinzialtage und der allgemeine Landtag ein
günstiges Feld für allerlei (meist aristokratische) Demagogen, von denen sich die vielköpfige,
politisch unreife Masse leicht bereden und beherrschen ließ. Von außen aber fingen Gefahren
zu drohen an, von denen das XV. Jahrhundert kaum eine Ahnung hatte: im Südosten
die Türken, im Nordosten der von der tatarischen Oberherrschaft soeben befreite Großfürst
von Moskau, welcher, kaum selbständig geworden, auf Lithauen lüsterne Blicke warf,
wiederholte Kriegszüge dahin unternahm und bereits um das Jahr 1515 den ersten Plan
einer Theilung Polens zu spinnen begann. Die innere und äußere Lage wurde demnach
ernst, und die polnische adelige Demokratie zeigte sich den Schwierigkeiten nicht gewachsen,
die eine ebenso consequeute und thatkräftige wie vorsichtige Politik erheischten. Zn den
genannten Schwierigkeiten trat als weitere die religiöse Reformation, welche zugleich alle
politischen Tendenzen beeinflußte.
Wie sehr aber auch die politische Stellung und die Leistungsfähigkeit Polens
geschwächt erscheint, so steigt und erweitert sich doch wesentlich dessen Cultur. Geschrieben
wird immer nur wenig; die Summe der Intelligenz wächst aber rasch, die Bildung erstreckt
sich auf einen immer weiteren Kreis. Daß diese Cultur eine classische, humanistische
Grundlage hat, ist im Charakter des Zeitalters begründet. Doch läßt sich eben jetzt
eine wesentliche Änderung wahrnehmen. Die unmittelbare Nachbarschaft, die deutsche
Abstammung der städtischen Bevölkerung, die vielfachen Verwandtschaften des herrschenden
Geschlechts hatten die polnische Civilisation im XV. Jahrhunderte sichtbar unter den
Einfluß der Deutschen gestellt. Jetzt räumt dieser dem westlichen, zunächst dein italienischen,
den Platz. Die tägliche Leetüre, die erbauliche wie die scherzhafte, die religiösen Dramen und
Mysterien werden noch immer deutschen Mustern nachgebildet, häufig deutscheu Büchern
entnommen oder übersetzt. Die deutschen Angriffe auf die katholische Kirche liefern dem
polnischen Protestanten und Controversisten den Kern seiner theologischen Kenntnisse und
seiner Argumente. Aber alles, was zu einer höheren, zumal literarischen Bildung, zu den
Formen und Sitten des gesellschaftlichen Lebens, znm Geschmack, vor allem aber zur
Kunst gehört, das holt fortan aus Italien (später aus Frankreich) seine Muster. Eine
italienische Fürstin auf dem polnischen Throne, Bona Sforza, König Sigismund I. zweite
Gemaliu, ist die Trägerin dieser Richtung.
Der Typus des eigentlichen humanistischen Dichters, der Weltmann und Höfling,
nöthigenfalls Diplomat, lebenslustiger Gesell, seiner Stellung und Carriere immer eingedenk,
nicht selten auch kirchlicher Würdenträger ist, hat zwar in Polen schon vor Bonas Anknnst
Die österreichisch-ungarische Monarchie in Wort und Bild
Galizien, Band 19
- Titel
- Die österreichisch-ungarische Monarchie in Wort und Bild
- Untertitel
- Galizien
- Band
- 19
- Herausgeber
- Erzherzog Rudolf
- Verlag
- k.k. Hof- und Staatsdruckerei, Alfred von Hölder
- Ort
- Wien
- Datum
- 1898
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- PD
- Abmessungen
- 16.48 x 22.34 cm
- Seiten
- 920
- Schlagwörter
- Enzyklopädie, Kronländer, Österreich-Ungarn
- Kategorien
- Kronprinzenwerk deutsch