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Die österreichisch-ungarische Monarchie in Wort und Bild - Galizien, Band 19
Seite - 609 -
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609 Das Folgende ist eine oft vorgekommene Geschichte: der Jüngling liebte; das Mädchen scheint auch geliebt zu haben, besaß aber nicht Muth genug, um einer ganzen Familie Widerstand zu leisten, und ließ sich (im Februar 1821) mit einem anderen vermählen. Der glückliche Mitbewerber — ein gewesener junger Osficier, ein sympathischer, offenherziger Charakter — bestand vor seiner Verlobung auf einer Unterredung mit Miekiewiez, in welcher er ihn dazu zu bringen wußte, mit seinen Ansprüchen zurückzutreten. Als nun aber das Mädchen für ihn unwiderruflich verloren war, brach die Liebe mit stürmischer Gewalt und Verzweiflung aus. Miekiewiez war damals bereits Gymnasiallehrer in Kowno, und die Einsamkeit der kleinen Provinzstadt, die Entfernung von allen Freunden, steigerte den Eindruck seines Unglücks so sehr, daß man den Ausbruch einer Geistesstörung befürchtete, und ihm selbst, wie es scheint, zuweilen Selbstmord als flüchtige Versuchung vorschwebte. Aus dieser Liebesgeschichte entstand ein Gedicht, in welchem die Leidenschaft und die Verzweiflung der Liebe zum ersten Mal in polnischer Sprache mit ihrer ganzen unüber- windlichen Macht auftreten. In chronologischer, wie in poetischer und künstlerischer Hinsicht sind die Ahnen das erste Liebesgedicht in der polnischen Literatur. Der Titel bezeichnet eine uralte Volkssitte. Am Allerseelentage pflegte die ganze Dorfbevölkerung in Lithauen sich Nachts auf dem Friedhof zu versammeln, um die Geister der Geschiedenen herbei zu beschwören und zu fragen, was für dieselben gethan werden könnte. Die damals viel verbreitete Ansicht, die Dichtkunst könne und solle durch die Rückkehr zur naiven Volksdichtung verjüngt werden, leitete auch unseren Dichter bei der Wahl dieses Stoffes. Unter den verschiedenen Geistern nun erscheint einer, der auf alle Fragen keinen Bescheid geben will, weil er zwar nicht gestorben, aber doch nur scheinbar am Leben ist. Sein Herz, seine Seele sind todt. In einer zweiten Scene erscheint derselbe im Hause eines Pfarrers, seines ehemaligen Erziehers, und erzählt seine Liebesqual, die ihn bis zum Selbstmordgedanken brachte, was er sich jetzt als schwere Sünde vorwirft. Der unglückliche Jüngling, Gustav, ist der Dichter selbst. Die Art, wie er liebt und leidet, erinnert wohl an Werther, wie die meisten Liebeshelden jener Zeit; auch entdeckt die moderne Kritik hie und da den Einfluß Rousseaus, zum Theil Jean Pauls; die äußere Form entspricht der Mode jener Zeit und ist für unseren heutigen Geschmack zu romantisch. Das aber, was den eigentlichen Kern und Inhalt des Gedichtes ausmacht, die unglückliche Liebe mit all ihrer mannigfachen und wechselnden Pein, ist mit unvergleichlicher Wahrheit und Innigkeit wiedergegeben. Mit den in Form und Inhalt hyperromantischen Ahnen erschien die ein episches Gedicht aus Lithauens vorchristlicher Zeit von einer elassischen Ruhe und Objeetivität, daß man kaum begreift, wie derselbe Dichter zu derselben Zeit in zwei principiell entgegengesetzten Richtungen diesen Grad der Vollkommenheit zu erreichen vermochte. Galizien. 39
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Die österreichisch-ungarische Monarchie in Wort und Bild Galizien, Band 19
Titel
Die österreichisch-ungarische Monarchie in Wort und Bild
Untertitel
Galizien
Band
19
Herausgeber
Erzherzog Rudolf
Verlag
k.k. Hof- und Staatsdruckerei, Alfred von Hölder
Ort
Wien
Datum
1898
Sprache
deutsch
Lizenz
PD
Abmessungen
16.48 x 22.34 cm
Seiten
920
Schlagwörter
Enzyklopädie, Kronländer, Österreich-Ungarn
Kategorien
Kronprinzenwerk deutsch
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