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Das Folgende ist eine oft vorgekommene Geschichte: der Jüngling liebte; das Mädchen
scheint auch geliebt zu haben, besaß aber nicht Muth genug, um einer ganzen Familie
Widerstand zu leisten, und ließ sich (im Februar 1821) mit einem anderen vermählen. Der
glückliche Mitbewerber — ein gewesener junger Osficier, ein sympathischer, offenherziger
Charakter — bestand vor seiner Verlobung auf einer Unterredung mit Miekiewiez, in welcher
er ihn dazu zu bringen wußte, mit seinen Ansprüchen zurückzutreten. Als nun aber das
Mädchen für ihn unwiderruflich verloren war, brach die Liebe mit stürmischer Gewalt
und Verzweiflung aus. Miekiewiez war damals bereits Gymnasiallehrer in Kowno, und
die Einsamkeit der kleinen Provinzstadt, die Entfernung von allen Freunden, steigerte den
Eindruck seines Unglücks so sehr, daß man den Ausbruch einer Geistesstörung befürchtete,
und ihm selbst, wie es scheint, zuweilen Selbstmord als flüchtige Versuchung vorschwebte.
Aus dieser Liebesgeschichte entstand ein Gedicht, in welchem die Leidenschaft und
die Verzweiflung der Liebe zum ersten Mal in polnischer Sprache mit ihrer ganzen unüber-
windlichen Macht auftreten. In chronologischer, wie in poetischer und künstlerischer Hinsicht
sind die Ahnen das erste Liebesgedicht in der polnischen Literatur.
Der Titel bezeichnet eine uralte Volkssitte. Am Allerseelentage pflegte die ganze
Dorfbevölkerung in Lithauen sich Nachts auf dem Friedhof zu versammeln, um die Geister
der Geschiedenen herbei zu beschwören und zu fragen, was für dieselben gethan werden
könnte. Die damals viel verbreitete Ansicht, die Dichtkunst könne und solle durch die
Rückkehr zur naiven Volksdichtung verjüngt werden, leitete auch unseren Dichter bei der
Wahl dieses Stoffes. Unter den verschiedenen Geistern nun erscheint einer, der auf alle
Fragen keinen Bescheid geben will, weil er zwar nicht gestorben, aber doch nur scheinbar
am Leben ist. Sein Herz, seine Seele sind todt. In einer zweiten Scene erscheint derselbe
im Hause eines Pfarrers, seines ehemaligen Erziehers, und erzählt seine Liebesqual, die
ihn bis zum Selbstmordgedanken brachte, was er sich jetzt als schwere Sünde vorwirft.
Der unglückliche Jüngling, Gustav, ist der Dichter selbst. Die Art, wie er liebt und leidet,
erinnert wohl an Werther, wie die meisten Liebeshelden jener Zeit; auch entdeckt die
moderne Kritik hie und da den Einfluß Rousseaus, zum Theil Jean Pauls; die äußere
Form entspricht der Mode jener Zeit und ist für unseren heutigen Geschmack zu romantisch.
Das aber, was den eigentlichen Kern und Inhalt des Gedichtes ausmacht, die unglückliche
Liebe mit all ihrer mannigfachen und wechselnden Pein, ist mit unvergleichlicher Wahrheit
und Innigkeit wiedergegeben.
Mit den in Form und Inhalt hyperromantischen Ahnen erschien die
ein episches Gedicht aus Lithauens vorchristlicher Zeit von einer elassischen Ruhe und
Objeetivität, daß man kaum begreift, wie derselbe Dichter zu derselben Zeit in zwei principiell
entgegengesetzten Richtungen diesen Grad der Vollkommenheit zu erreichen vermochte.
Galizien. 39
Die österreichisch-ungarische Monarchie in Wort und Bild
Galizien, Band 19
- Titel
- Die österreichisch-ungarische Monarchie in Wort und Bild
- Untertitel
- Galizien
- Band
- 19
- Herausgeber
- Erzherzog Rudolf
- Verlag
- k.k. Hof- und Staatsdruckerei, Alfred von Hölder
- Ort
- Wien
- Datum
- 1898
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- PD
- Abmessungen
- 16.48 x 22.34 cm
- Seiten
- 920
- Schlagwörter
- Enzyklopädie, Kronländer, Österreich-Ungarn
- Kategorien
- Kronprinzenwerk deutsch