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Eine prosaische und so zu sagen praktische Anwendung jener Ideen findet sich im Buche
der Pilger, welches Mickieiviez in Paris im Jahre 1833 erscheinen ließ. Es ist dies ein
im evangelischen Stile verfaßter Codex oder Katechismus der religiösen und patriotischen
Pflichten des Emigranten. Die kleine Schrift wurde von den Polen mit Ehrfurcht auf-
genommen, von Ausländern in fremde Sprachen übersetzt. (Französisch von Montalembert.)
Lammenais erklärt selbst, dem Miekiewiez Vieles entlehnt zu haben.
Die erwähnte Scene der Ahnen ist der Kern, aus dem sich später die ganze mystische
Richtung der polnischen Poesie entwickelt hat, und zugleich der Schlüssel, der alle Räthsel
des weiteren Lebenslaufes des Dichters eröffnet. Auf diese Art hat sich derselbe alle jene
Fragen beantwortet, die er in seinem Schmerz an die Vorsehung stellte; die Antwort
befriedigte ihn vollkommmen und führte ihn nach anderen zehn Jahren zu einem neuen und
letzten Wendepunkt, zu dem Glauben an eine neue Offenbarung. Hier ist die Quelle. Der
Strom ergießt sich über die ganze nachfolgende Dichtungsperiode. Die größten Dichter,
wie die geringsten sind von ihm fortgerissen. In dieser Grundidee treten natürlich
verschiedene Modifikationen ein, sie ist aber und bleibt die herrschende, und bildet den
innersten Kern, wie das charakteristische Merkmal der Poesie in jenen Jahren.
Im Jahre 1834 erschien l ' aäeus? (Herr Thaddäus), das eapo ck'opera
der ganzen polnischen Literatur. Es ist kein heroisches Epos. Große Schlachten und Siege,
historische Heldengestalten kommen da nicht vor. Es ist eine an Napoleons russischen
Feldzug gelehnte und mit demselben vielfach verwickelte Familiengeschichte. Von seiner
unvergleichlichen Schönheit versuchen wir nicht einen, wenn auch nur entfernten Begriff
zu geben. Dem deutschen Leser mag „Hermann und Dorothea" einen Begriff von dem
l ' a ä sus? geben; nur müßte er dabei denken, daß die unübertroffene Schönheit des
Goethe'schen Gedichtes sich in einem viel größeren Bilde entrollt, in welchem gleiche Plastik
und Lebendigkeit in einer viel größeren Anzahl und Verschiedenheit der Figuren und
Scenen sich bewundern läßt. Wir erlauben uns den Glauben zu erbitten, daß es nicht
nationale Einbildung oder Anmaßung, sondern reine Wahrheit ist, wenn wir zu behaupten
wagen, unter den epischen. Gedichten des christlichen Enropa gebe es keines, welches dem
Homer, und zwar nicht den Götter- und Heldenkämpfen der Jlias, sondern den ruhigeren
Scenen und Bildern der Odyssee näher käme, als Mickiewicz' l 'acleus?.
Und mit ihm hat der Dichter im 36. Lebensjahre zu dichten aufgehört, und zwar aus
fester Überzeugung und Absicht. Noch ehe er den Thaddäus verfaßte, sagte Mickiewicz
öfters, die Dichtkunst sei ein leerer Zeitvertreib, eine Vanitas vanitawm und „nur ein
Werk könne Werth haben, welches die Menschen zu Gott führt". Auf diesem Wege zu Gott
hoffte er selbstverständlich zur Wiedergeburt seines Vaterlandes zu gelangen. Er wandte
sich also von der Poesie ab und ist fortan ausschließlich auf die moralische und religiöse
Die österreichisch-ungarische Monarchie in Wort und Bild
Galizien, Band 19
- Titel
- Die österreichisch-ungarische Monarchie in Wort und Bild
- Untertitel
- Galizien
- Band
- 19
- Herausgeber
- Erzherzog Rudolf
- Verlag
- k.k. Hof- und Staatsdruckerei, Alfred von Hölder
- Ort
- Wien
- Datum
- 1898
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- PD
- Abmessungen
- 16.48 x 22.34 cm
- Seiten
- 920
- Schlagwörter
- Enzyklopädie, Kronländer, Österreich-Ungarn
- Kategorien
- Kronprinzenwerk deutsch