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unvermindertem Eifer sie im Volke immer gepflegt werden. Doch hat der Verfasser durch
längere Zeit während seiner melographischen Reisen Gelegenheit gehabt, diese Erscheinungen
zu beobachten, und sollte es einmal dazu kommen — was höchst nothwendig wäre — daß
man diese merkwürdigen Überbleibsel aus dem musikalischen Alterthume phonographisch
festhält, dann werden meine Worte Bestätigung finden.
Bei den chromatischen Gesängen konnte ich schon deshalb über die richtige Auffassung
durch das Gehör nicht in Zweifel sein, da sie regelmäßig von Vielen nnd die Intervalle
vom Chore mit überraschender Einstimmigkeit und reiner Intonation gesungen werden.
Ein solcher Gesang, der für eine Hochebene mit weitentfernten Felsenmauern bestimmt ist,
klingt aus den vereinigten Kehlen wie der Schall, der auf einem riesigen, geheimnißvollen
metallenen Instrumente erzeugt wird, und klingt selbst erfahrenen Menschen aus der Ferne
geheimnißvoll. Wer ihn zum erstenmale vernimmt, erräth überhaupt nicht, daß es mensch-
licher Gesang ist.
Wichtig für die Alterthümlichkeit dieser Gesänge ist eine ihrer Eigenschaften. Sie
allein bilden eine Ausnahme in den einstimmigen Gesängen der Bosnier und Herzegoviner,
und da ist das einzige Intervall, über welches sie überhaupt disponiren, die Secunde.
(Sehr selten auch die kleine Terz.) Dies wird der Leser wieder als eine Folge der Ober-
flächlichkeit entweder der Sänger oder des beobachtenden Zuhörers betrachten. Auch ich
war beim ersten aufmerksamen Zuhören (im Innern Dalmatiens), wiewohl das Jutonireu
der Secunden sehr bestimmt, genau und rein erfolgte, im Zweifel, welchen Standpunkt ich
einnehmen, ob ich dies als einen Fehler oder als eine Eigenthümlichkeit ausfassen sollte.
Aber als ich eine ganz bestimmte Absicht darin zu erkennen anfing, als ich es (bei der
Landbevölkerung) in allen genannten vier Ländern hörte, als ich erkannte, daß die
Sänger bei gemeinsamen Gesängen jene Secunde gleichzeitig intonirten, als ich
herausfand, daß der größte Theil dieser Gesänge mit einer Secunde schloß, nnd
daß auch der Guslespieler sie mit Vorliebe anwendet und sie regelmäßig als Abschluß
gebraucht, da konnte ich nicht mehr zweifeln, daß ich vor einer mächtigen, festen Tradition
stand, an welche die Wellen der neuesten Musik vergeblich anschlagen, vor einer Tradition,
welche meiner Ansicht nach ihren Ursprung in der Zeit des musikalischen Alterthums hat,
da die Musik von Ton zu Ton, von Intervall zu Intervall wuchs und sich erweiterte.
Bekannt ist die Thatsache, daß man dem Pythagoras in seinem Geburtsorte Samos
im Tempel der Hera eine Gedenktafel zur Erinnerung an seine Entdeckung der Oetave
setzte; und es erregt in uns den Gedanken an eine geradezu phantastisch lange Jahresreihe,
wenn wir ins Auge fassen, daß die Secunde eine der glänzendsten Errungenschaften für
diese Gesänge ist. Ich betrachte die behandelten Melodien als musikalische Formen, welchen
das System der Tonleiter noch unbekannt ist.
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Buch Die österreichisch-ungarische Monarchie in Wort und Bild - Bosnien und Herzegowina, Band 22"
Die österreichisch-ungarische Monarchie in Wort und Bild
Bosnien und Herzegowina, Band 22
- Titel
- Die österreichisch-ungarische Monarchie in Wort und Bild
- Untertitel
- Bosnien und Herzegowina
- Band
- 22
- Herausgeber
- Erzherzog Rudolf
- Verlag
- k.k. Hof- und Staatsdruckerei, Alfred von Hölder
- Ort
- Wien
- Datum
- 1901
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- PD
- Abmessungen
- 15.34 x 22.94 cm
- Seiten
- 536
- Schlagwörter
- Enzyklopädie, Kronländer, Österreich-Ungarn
- Kategorien
- Kronprinzenwerk deutsch