Seite - VII - in Kronprinz Rudolf - Politische Briefe an einen Freund 1882-1889

AM 15. Juni 1888 starb nach 99tägiger Regierung Kaiser Friedrich III. und am 31. Jänner des nächsten Jahres verschied Kronprinz Rudolf in der Blüte seines Mannes- alters. So ungleich auch ihre Charaktere, so wenig über- einstimmend ihre Persönlichkeiten, so unähnlich auch ihr äußeres Gebaren war, eines war ihnen gemeinsam: das entschiedene, aufrichtige und unerschütterliche Be- kenntnis zum liberalen Gedanken. Der Ältere, dem es vom Schicksal noch vergönnt war, die große Zeit der Grün- dung des Deutschen Reiches in vollster Tatkraft mitzuer- leben und einen hervorragenden Anteil an diesem welt- historischen Werk für sich in Anspruch nehmen zu kön- nen, sank ins Grab, ohne jenen Ideen zum Sieg ver- holten zu haben, für die er ein Menschenalter hindurch gekämpft und für die er selbst den Streit mit Bismarck nicht gescheut hatte; der Jüngere, geboren im Jahre vor dem Zusammenbruch der Reaktion im absolutistischen Österreich, dessen Kindheit und erste Jünglingsjahre in die so kurze Zeit des vordringenden Liberalismus in unserem Lande fallen, verschwand von der Szene, ohne noch das Stichwort für sein Auftreten erhalten zu haben. Tragi- sches Schicksal zweier Fürsten, tragisches Schicksal für den liberalen Gedanken, tragisches Schicksal für Öster- reich und Deutschland, ja tragisches Schicksal für die ganze Welt! Denn es ward zum furchtbaren Verhängnis, nicht bloß für Mitteleuropa, sondern für die gesamte Menschheit, VÌI