Seite - VIII - in Kronprinz Rudolf - Politische Briefe an einen Freund 1882-1889

daß Kaiser Friedrich und Kronprinz Rudolf nicht in den Lauf der Ereignisse eingreifen konnten. Sie waren Söhne ihrer Zeit und in ihnen verkörperten sich die Ge- danken ihrer Epoche. Dem einen aber war nur eine kaum dreimonatige Regierungszeit vom Geschick bestimmt und nur das Abendrot seiner untergehenden Sonne läßt darauf schließen, wie helleuchtend sein Tag gewesen wäre; der andere aber versank ins ewige Nichts, ohne daß sein Volk erfahren hätte, welch großen, ja unersetz- lichen Verlust es erlitten. Nicht als ob alle Ideen, alle ihre Taten, alle ihre Bestrebungen jeder Kritik standge- halten hätten, nicht als ob sie vollkommene, von jedem Tadel freie Männer gewesen wären. Aber sie waren der Ausdruck ihrer Epoche und sie hätten die Völker und Staaten auf dem Wege der notwendigen historischen Ent- wicklung weitergeführt. So aber haben Deutschland und Österreich eine überaus wichtige Phase ihres organischen Wachstums versäumt und sind in der Welt fremd gewor- den. Während in den europäischen Großmächten — na- türlich mit Ausnahme Rußlands — das Bürgertum zum mächtigsten Faktor des staatlichen Lebens wurde, wäh- rend in London, Paris und Rom Verwaltung und Gesetz- gebung unter den bestimmenden Einfluß der bürgerlich- liberalen Ideen kamen, blieben Deutschland und Öster- reich nach einem kurzen Anlauf auf dieser Bahn zurück. Der Liberalismus konnte sich in Zentraleuropa nicht aus- leben, er war verhindert, die ihm von der historischen Entwicklung vorgezeichnete Rolle zu spielen; das Bür- gertum, der Träger der wirtschaftlichen Kraft des Staates, konnte nicht die ihm gebührende politische Machtstellung erringen und die Ansätze zur Schaffung eines staatlichen Organismus gleich jenem der West- mächte verkümmerten rasch. So konnte es geschehen, VIII