Seite - 14 - in Kronprinz Rudolf - Politische Briefe an einen Freund 1882-1889

Prag, 26. Juli 1882 Lieber Herr Szeps! Mit innigstem Danke stelle ich Ihnen die zwei Bücher zurück, welche Sie so freundlich waren mir zu leihen. Beide interessierten mich sehr; das Werk über den Nihi- lismus ist das beste, welches ich noch über die uns Euro- päern ziemlich unklaren russischen Verhältnisse in die Hand bekam; das zweite ist vielleicht noch anziehender. Die Differenzen zwischen Italien und Frankreich dürften durch die ägyptischen Verwicklungen von Tag zu Tag mehr in den Vordergrund treten. Sehr lehrreich ist das Beispiel, wie sehr bei wirklich hoch entwickelten Völkern das Nationalitätenprinzip, die Zusammengehörigkeit der Stämme einer Rasse vor großen politischen und Macht- fragen in den Hintergrund treten. Das Nationalitätsprinzip ist auf den gewöhnlichsten tierischesten Grundsätzen basiert, es ist eigentlich der Sieg der fleischlichen Sympathien und Instinkte über die geistigen und kulturellen Vorteile, welche die Ideen der Gleichheit aller Nationen, des Kosmopolitismus, für die Menschheit bringen. Ich halte die Nationalitäten- und Rassenfeindschaften für einen großen Rückschritt, und bezeichnend genug ist es, daß eben alle die fortschrittsfeindlichen Elemente Europas am meisten diesen Prinzipien huldigen und die- selben ausbeuten. Wie die Wissenschaft eine kosmopolitische ist, so wer- den es auch alle Teile der menschlichen Gesellschaft in allen ihren Beziehungen zueinander mit der Zeit sein müssen. Wir in Österreich sind, ohne dem Grafen Taaffe nahe- treten zu wollen, noch nicht ganz auf dem Wege, der in jene goldenen Zeiten führt. 14