Seite - 22 - in Kronprinz Rudolf - Politische Briefe an einen Freund 1882-1889

Beiliegend übersende ich Ihnen einen höchst merk- würdigen Brief, den ich gestern erhielt. Schon mehrmals bekam ich aus Sachsen dergleichen eigentümliche Schrei- ben, desgleichen auch aus Amerika, meistens sind die Tendenzen übereinstimmende. Interessant ist an der ganzen Sache nur das nämliche Bestreben, welches in allen Ländern vorherrscht; man sehnt sich nach Ruhe und geordneten Verhältnissen und niemand erwartet in Europa glückliche Zeiten, bevor nicht das Schicksal und die Regelung der orientalischen Angelegenheiten gründlich ausgekämpft sind. Rußland Ist das drohende Gespenst und in der ewigen Kriegsgefahr, in der wir leben, stockt das bürgerliche Leben, und man verzehrt sich durch seine eigenen Kraftentfaltungen10. Europa ist in einem ungesunden Zustande, und bald muß eine Lösung dieser anormalen Verhältnisse kommen. Ich bitte den Brief mir, nachdem Sie ihn gelesen haben, zurückzuschicken; vielleicht könnten Sie mir eine Andeu- tung geben, von wem er stammt und aus welcher Klasse von Menschen. Mit vielen Grüßen Ihr Rudolf Briefbeilage Leipzig, den 23. November 1882 An Se. Kaiserl. Königl. Hoheit Kronprinz Rudolf von Österreich ! Eine Ansicht über österreichische Verhältnisse und die Bekämpfung des Deutschtums in den österreichischen Landen. Österreich in seinem jetzigen Bestände hat nur die Wahl, entweder deutsch regiert zu werden oder seiner Zerbröckelung entgegenzugehen, da die verschiedenen Volksstämme in den einzelnen Landesteilen nach ver-22