Seite - 407 - in L3T - Lehrbuch für Lernen und Lehren mit Technologien
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Ein Grund, warum es schwer fällt, Medien begrifflich zu fassen, ist ihre Flüchtigkeit. Für die Philoso-
phin Sybille Krämer (2008) ist die Figur des Nachrichtenboten in der Antike eine Personifizierung des Me-
dienbegriffs: Wenn der Bote eine Meldung überträgt, tritt er nicht als eigenständiger Akteur auf, sondern
bleibt stets im Hintergrund. Erst wenn es eine Störung in der reibungslosen Übertragung gibt, wird die Ma-
terialität des Mediums bewusst. Der Bote wird erst dann eine Figur in der Kommunikation, wenn er die
Botschaft beispielsweise vergisst. Ansonsten hat das Vermittelte als Unmittelbares zu erscheinen. Medien
werden also erst dann sichtbar, wenn sie nicht funktionieren, gestört sind oder nicht beherrscht werden.
Daraus ergibt sich ein Paradox im Diskurs um netzbasiertes Lernen und Lehren. Es gibt diesen Diskurs,
eben weil das Lernen und Lehren mit Technologien noch nicht reibungslos funktioniert – netzbasierte Leh-
re ist dann erfolgreich etabliert, wenn die Medien wieder in den Hintergrund treten oder, anders gesagt, das
Online-Lernen kein Thema mehr ist. Ein Widerspruch, an dessen Dekonstruktion Jaques Derrida Gefallen
gefunden hätte.
Neue Medien haben stets sowohl utopisch-verklärende als auch dystopisch-warnende Prognosen evoziert.
Die Angst vor dem Werteverfall begleitet jedes neue Medium, vom Buch bis zum Internet. So wurde noch
bis Ende des 19. Jahrhunderts vor den Konsequenzen der Lektüre von Romanen gewarnt (Postner, 2005).
Edward Shorthouse vergleicht im Jahr 1892 Romanleser mit Opiumrauchern:
„Even the better class of fiction fills the mind with absurd emotions about unreal imaginary totally ficti-
tious heroes and heroines who never existed or ever will exist and too often with immoral thoughts and
suggestions. […] The habitual novel reader like the sensation theatre goer, the concert hall attender or like
the inebriate or opium smoker must ever have some fresh excitement. […] Novel Readers can weep with
gush and false Sentiment over the entirely imaginary sorrows of a bogus hero or heroine who never existed
but will not give a Shilling to alleviate actual distress or destitution around them.“ (S. 670).
Was Shorthouse an der Romanlektüre kritisiert, wird später in der Medienwissenschaft unter den Begrif-
fen „Immersion“ und „parasoziale Beziehungen“ diskutiert: Das völlige Eintauchen in eine mediale Reali-
tät und das Kommunikationsverhältnis zu fiktionalen oder unerreichbaren Charakteren (bspw. Protagonis-
ten einer Fernsehserie, Nachrichtensprecher /innen). In aller Regel ist es ein harmloses Vergnügen, in den
Abenteuern von Harry Potter zu versinken oder Helga Beimer aus der Lindenstraße als „Mutter der Nation“
anzusehen. Die Fiktion ist weniger anspruchsvoll als der Umgang mit realen Personen: Ein Mausklick
schließt das Computerprogramm, per Knopfdruck ist der Fernseher aus und mit einem Knall das Buch zu-
geschlagen – und die Geschichte steht, ohne nachtragend zu sein, bei Bedarf jeder Zeit wieder zur Verfü-
gung. Kein Wunder also, dass wir Medienkonsum entspannend finden.
Ab wann gleitet diese Entspannung in ein Abhängigkeitsverhältnis ab? Laut dem Drogen- und Suchtbe-
richt der Bundesregierung (2012) gelten auf Basis einer repräsentativen Befragung in der Gruppe der 14-
bis 64-Jährigen ca. 560.000 Menschen als internetabhängig und ca. 2,5 Mio. Menschen als problematische
Internetnutzer/innen. Die Klassifizierung "Internetsucht" beruht dabei nicht allein auf der online verbrach-
ten Zeit, sondern auf der Fähigkeit, auch außerhalb virtueller Gemeinschaften am gesellschaftlichen Leben
teilzuhaben. Eine besondere Rolle nehmen dabei Online-Spiele ein, die Nutzer oft Stunden, manchmal Tage
an den Bildschirm fesseln. Mediengeschichtlich ist die Angst vor dem Verschwinden in der fiktionalen
Welt bereits im 19. Jahrhundert in der Figur des Don Quijote beschrieben. Nach Lektüre zahlreicher Aben-
teuerromane wird „der sinnreiche Junker Don Quijote von der Mancha“ zum Ritter, der gegen Windmühlen
kämpft - ein tragischer Fall von 'Buchsucht'.
Sind Medien prinzipiell mit Vorsicht zu genießen? Die Frage, ob Medien unser Leben bereichern oder
verarmen lassen, ist eine wiederkehrende gesellschaftliche Debatte. Medienkritische Äußerungen, beson-
ders in Bezug auf Fernsehen, Computer und Internet, haben dabei Konjunktur - und werden oft selbst zum
medialen Ereignis. Ein Beispiel ist Manfred Spitzer (2012), wenn er vor der um sich greifenden digitalen
Demenz warnt. In der Medienwissenschaft ist seit den Arbeiten von Blumer und Katz (1974) das Prinzip
"uses and gratifications" ein weithin anerkanntes Paradigma. Demnach erfolgt der Medienkonsum zweckra-
tional; Nutzung und Nutzen sind miteinander verwoben. Wir konsumieren Medien gezielt, um bestimmte
Bedürfnisse zu befriedigen.
Inhaltsverzeichnis
- Einleitung 1
- Einführung 11
- Von der Kreidetafel zum Tablet 27
- Die Geschichte des WWW 39
- Hypertext 51
- Geschichte des Fernunterrichts 65
- Informationssysteme 75
- Webtechnologien 89
- Multimediale und interaktive Materialien 99
- Standards für Lehr- und Lerntechnologien 109
- Human-Computer-Interaction 117
- Didaktisches Handeln 127
- Medienpädagogik 139
- Systeme im Einsatz 147
- Kommunikation und Moderation 157
- Forschungszugänge und -methoden 167
- Planung und Organisation 177
- Literatur und Information 185
- Die „Netzgeneration“ 201
- Multimedia und Gedächtnis 209
- Mobiles und ubiquitäres Lernen 217
- Prüfen mit Computer und Internet 227
- Blogging und Microblogging 239
- Vom Online-Skriptum zum E-Book 249
- Educasting 257
- Game-Based Learning 267
- Einsatz kollaborativer Werkzeuge 277
- Offene und partizipative Lernkonzepte 287
- Qualitätssicherung im E-Learning 301
- Offene Lehr- und Forschungsressourcen 311
- Lernen mit Videokonferenzen 319
- Simulationen und simulierte Welten 327
- Barrierefreiheit 343
- Genderforschung 355
- Zukunftsforschung 363
- Kognitionswissenschaft 373
- Diversität und Spaltung 387
- Lern-Service-Engineering 397
- Medientheorien 405
- Das Gesammelte interpretieren 413
- Wissensmanagement 421
- Sieht gut aus 427
- Urheberrecht & Co. in der Hochschullehre 435
- Interessen und Kompetenzen fördern 445
- Spielend Lernen im Kindergarten 455
- Technologieeinsatz in der Schule 465
- Technologie in der Hochschullehre 475
- Fernstudium an Hochschulen 483
- Webbasiertes Lernen in Unternehmen 489
- E-Learning in Organisationen 497
- Erwachsenen- und Weiterbildung 507
- Freie Online-Angebote für Selbstlernende 515
- Sozialarbeit 525
- Human- und Tiermedizin 531
- Online-Labore 539
- Mehr als eine Rechenmaschine 547
- Bildungstechnologien im Sport 557
- Fremdsprachen im Schulunterricht 569