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Vor wenig Tagen traf ich einen jungen V. an, einen offnen Jungen, mit einer
gar glücklichen Gesichtsbildung. Er kommt erst von Akademien dünkt sich
eben nicht weise, aber glaubt doch, er wisse mehr als andere. Auch war er
fleißig, wie ich an allerlei spüre, kurz, er hat hübsche Kenntnisse. Da er hörte,
daß ich viel zeichnete und Griechisch könnte (zwei Meteore hierzulande),
wandte er sich an mich und kramte viel Wissens aus, von Batteux bis zu
Wood, von de Piles zu Winckelmann, und versicherte mich, er habe Sulzers
Theorie, den ersten Teil, ganz durchgelesen und besitze ein Manuskript von
Heynen über das Studium der Antike. Ich ließ das gut sein.
Noch gar einen braven Mann habe ich kennen lernen, den fürstlichen
Amtmann, einen offenen, treuherzigen Menschen. Man sagt, es soll eine
Seelenfreude sein, ihn unter seinen Kindern zu sehen, deren er neun hat;
besonders macht man viel Wesens von seiner ältesten Tochter. Er hat mich zu
sich gebeten, und ich will ihn ehster Tage besuchen. Er wohnt auf einem
fürstlichen Jagdhofe, anderthalb Stunden von hier, wohin er nach dem Tode
seiner Frau zu ziehen die Erlaubnis erhielt, da ihm der Aufenthalt hier in der
Stadt und im Amthause zu weh tat.
Sonst sind mir einige verzerrte Originale in den Weg gelaufen, an denen
alles unausstehlich ist, am unerträglichsten Freundschaftsbezeigungen.
Leb’ wohl! Der Brief wird dir recht sein, er ist ganz historisch.
Am 22. Mai
Daß das Leben des Menschen nur ein Traum sei, ist manchem schon so
vorgekommen, und auch mit mir zieht dieses Gefühl immer herum. Wenn ich
die Einschränkung ansehe, in welcher die tätigen und forschenden Kräfte des
Menschen eingesperrt sind; wenn ich sehe, wie alle Wirksamkeit dahinaus
läuft, sich die Befriedigung von Bedürfnissen zu verschaffen, die wieder
keinen Zweck haben, als unsere arme Existenz zu verlängern, und dann, daß
alle Beruhigung über gewisse Punkte des Nachforschens nur eine träumende
Regignation ist, da man sich die Wände, zwischen denen man gefangen sitzt,
mit bunten Gestalten und lichten Aussichten bemalt—das alles, Wilhelm,
macht mich stumm. Ich kehre in mich selbst zurück, und finde eine Welt!
Wieder mehr in Ahnung und dunkler Begier als in Darstellung und lebendiger
Kraft. Und da schwimmt alles vor meinen Sinnen, und ich lächle dann so
träumend weiter in die Welt.
Daß die Kinder nicht wissen, warum sie wollen, darin sind alle
hochgelahrten Schul—und Hofmeister einig; daß aber auch Erwachsene
gleich Kindern auf diesem Erdboden herumtaumeln und wie jene nicht
wissen, woher sie kommen und wohin sie gehen, ebensowenig nach wahren
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Die Leiden des jungen Werthers
- Titel
- Die Leiden des jungen Werthers
- Autor
- Johann Wolfgang von Goethe
- Datum
- 1774
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- PD
- Abmessungen
- 21.0 x 29.7 cm
- Seiten
- 95
- Kategorien
- Weiteres Belletristik